Peter Handkes grandioser Reiseroman "Die Obstdiebin"
Unlängst stellte ein Regionalblatt fest, dass sich Peter Handke, 74, immer mehr dem Bildnis Don Quijotes annähere: der Dichter, bauschiges, schulterlanges Haar, aschgrauer Schnurr- und Kinnbart, als Prosa-Ritter von der traurigen Gestalt.
Das Klischee besagt mit billigem Sarkasmus, Handke sei eine Art Literaturhohepriester, ein schnöseliger Schriftgelehrter, dem in seinen Büchern die sogenannte Wirklichkeit zu raumgreifendem Dichtungsdekor gerinne - ein Geist aus der Zeit, als das Erzählen noch geholfen hat.
"Die Obstdiebin", Handkes neuer Roman, straft dies Lügen. Der seit Jahrzehnten nahe Paris lebende österreichische Autor setzt sich darin dem Toben und Treiben der Welt aus; es rauscht der Feierabendverkehr, es schellen Mobiltelefone, es schaben und raspeln die Holzwürmer: "Das Erdröhnen einer Hummel oder Hornisse als ein Anfangsakkord, Auftakt zu einem Blues."
Umwege, Abschweifungen, Andeutungen
Handke mischt Alltags-Klein-Klein und Prosa-Möglichkeitswelten, Icherzählung und weit ausholendes Epos: Ein namenloser Autor, seit einem Vierteljahrhundert in einem Pariser Vorort lebend, macht sich auf zu einer Fahrt in den Norden Frankreichs, in die Region Picardie; nach einem Bienenstich ("an dem Stich-Tag") betritt er, in einer Art Fortschreibung von Handkes Roman "Mein Jahr in der Niemandsbucht" (1994), das schier endlose Feld der Umwege, Abschweifungen, Andeutungen, Fantasien, auf dem Handke in "Die Obstdiebin" Heldinnengeschichte und Reisemärchen, Bombentrichter und Kieswegrinne, Johnny Cash und Homer, Hemdärmelzuknöpfen und Haselnussknacken kühn verschränkt und ineinander spiegelt.
Der Icherzähler löst sich gleichsam auf und diffundiert in die fein verwobene Geschichte einer Obstdiebin und ihres dreitägigen Abenteuerreigens, von dem aus sich wiederum Verbindungslinien zu einer von Terrorgefahr, comicartiger US-Präsidentschaft und Flüchtlingsdramatik dominierten Gegenwart herauslesen lassen: Näher als hier ist dem Erzählen selbst wohl schwer zu kommen.
"Welches Obst isst sich mit Butz und Stängel?"
"Die Obstdiebin" versammelt das Überquellende, Anstürmende, Existenzielle, das Handke seit je mit dichterischer Literatur verbindet; der Roman - laut einer Notizbuchaufzeichnung Handkes das "Letzte Epos (mit großem L)" - ist Gegenstück zu jener Form von strikt handlungsorientierter Prosa, die, nach einem Wort Paul Nizons, wie ein Wassertropfen an der Scheibe abläuft. Handke zerschlägt, um im Bild zu bleiben, Glas -und den Fensterrahmen gleich dazu. "Zeitweise kam es, wie es vielleicht kommen sollte. Die Regel freilich war, dass es kam, wie es kam." Handkes Schreiben, das sich zuweilen nah an den Steilklippen des Kitsches bewegt, ist bereinigt von Mätzchen und Moden - in einer Literaturlandschaft der durchkalkulierten Bestseller-Fabrikation und Sprachbaukasten-Sicherheit bereits ein Wert an sich. Mit Sog, Schalk ("Lang leben die Eintagsfliegen!"), Selbstironie (",Stümper!' war die am häufigsten mir in den Sinn kommende Selbstanrede") und, ja, Swing erzählt der Autor die Geschichte seiner bisweilen wie aus Traumbildern entstiegen wirkenden Protagonistin, einer abergläubischen, mit Reisegepäck beladenen Frau, die wahlweise Alicia, Alexia, "weiblicher Hamlet" oder, eher hüftsteif, "Fremdlingin" genannt wird; ihre Nächte verbringt sie gern unter Herbergstreppen; ihre kulinarischen und kleptomanischen Gelüste weiß die Obstdiebin zu zügeln: "Welches Obst isst sich mit Butz und Stängel?" - "Die Birnen!"
Schön viel Handke
Handke bleibt der grandiose Beobachter und Berichterstatter von Vogeltreiben, Fliegentod, Rauchfangschwaden, Maisblätterrascheln, Momentfreuden, Waldesruh oder Wolkenhimmel: "Bei stillem Wetter alle die senkrechten Rauchsäulen parallel über den Dächern zu sehen, bei Wind all die Rauchfahnen ebenso parallel in Diagonalen, bei Sturm parallel in der Waagrechten, ausflockend und zerstiebend allerwärts der Rauch, gleich beim Austritt aus dem Schornstein, der cheminée im Fast-Orkan." Nebenher brilliert der Autor als Beschimpfungsvirtuose: "Wo bleiben sie bloß, die Dreckskerle, die Hundsfötter, die Hasenfüße, die Schweinsrüssel, die Galgenvögel?" Schön viel Handke in einem Handke.
Auch der Autor in "Die Obstdiebin" zürnt -und zweifelt. Der Icherzähler ist abgestoßen von dem, was "gemeinhin ,Werk' hieß":"Allein schon Wörter wie ,Arbeitszimmer' oder gar ,Werkraum' waren mir zuwider. In einem jeden Zimmer im Haus, in der Küche, auch draußen im Garten, hatte ich im Lauf der Jahrzehnte das Meine getan." Die Obstdiebin weist dem Schriftsteller nach dem Bienenstich den Weg ins Freie.
Peter Handke: Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere. Suhrkamp, 559 S., EUR 35,-