Hubert und seine vielen Gesichter: mal verdatterter Clown, mal Häufchen Elend. Den aufgetischten Holunderblütensaft quittiert der Patient mit fortschreitender Demenz in Petra Pellinis Romandebüt „Der Bademeister ohne Himmel“ mit den Worten: „Danke für den Durst.“ Die Haarbürste, die ihm seine halbwüchsige Helferin Linda in die Hand drückt, will er dem Mann im Badezimmerspiegel reichen. „Gäbe es eine Leistungsbeurteilung für Demente, wäre Hubert Klassenbester“, schreibt Pellini. „Er hat vergessen, wie man Besteck benutzt und dass man sein Essen isst, wenn es einem vor die Nase gestellt wird.“ Huberts Tage erschöpfen sich darin, dass er Walnusshälften auf dem Küchentisch platziert und sein Altherrenstofftaschentuch darüber ausbreitet. Oft zeichnet er Kreise auf Zeitungspapier. Bald gelingt es ihm nicht mehr, den Kopf in den Nacken zu legen, um den Himmel zu sehen. Huberts einstige Existenz, himmelweit weg.
Seine Krankheit böte genug Stoff für eine überfrachtete Sentimentalitätsoper, für jedes denkbare Stereotyp. Petra Pellini nähert sich diesem Leben, das einer ganz eigenen Logik gehorcht, in ihrem Roman mit Feingefühl und Respekt. Es geht auch um die Frage, was ein junger Mensch aus seinem Leben macht – und welche Verheerungen die späten Jahre für die Kranken und Todkranken bereithalten.
„Der Bademeister ohne Himmel“, die Geschichte des ungleichen Paars Hubert und Linda, flankiert von einer quirligen Pflegerin mit großem Herz, hat sich seit Wochen in den Bestsellerlisten festgesetzt; gerade wurden die Übersetzungsrechte nach Südkorea verkauft. Für Pellini, 54, eine ungewohnte Situation, wie sie beim Treffen unter einem wie gemalten Himmel am Bregenzer Bodenseeufer freimütig eingesteht. „Ich kam aus dem Nichts“, sagt sie. Nachsatz: „Was mir ganz recht ist.“ 2021 gewann sie mit einem Auszug aus dem späteren Roman den Vorarlberger Literaturpreis; drei Jahre lang schrieb sie an dem Buch. Das abgeschlossene Manuskript wanderte von Hand zu Hand, bis es schließlich in einer Münchner Literaturagentur landete. Eine Woche vor Beginn der Frankfurter Buchmesse, dem alljährlichen Hochamt der Branche, verschickte das Vermittlungsbüro das Skript an 20 Verlage. „Es folgten drei närrische Wochen“, erinnert sich Pellini. Rankings, Bieterverfahren, Angebotslegungen. Am Ende bekam der Hamburger Rowohlt Verlag den Zuschlag – und Pellini einen sechsstelligen Betrag überwiesen. „Eine Luxusjacht geht sich nicht aus“, lacht sie am Bodenseeufer. „Na ja, die Steuer.“
Worte weg. Fertigkeiten weg
Wasser, die Universalmetapher für Glück und Gefühl, plätschert und rauscht in Pellinis Roman reichlich. Dazu schimmern J. D. Salingers Klassiker „Der Fänger im Roggen“ und Wolfgang Herrndorfs Jugendroman „Tschick“ aus den Seiten des ungeahnten Bestsellers hervor. „Der Bademeister ohne Himmel“ könnte auch als eine Art Bregenzer „Harold und Maude“-Variante plus Demenz durchgehen; in jener Filmkomödie aus dem Jahr 1971 befreundet sich ein Jugendlicher mit skurrilem Hang zum Suizid mit einer 80-Jährigen.
Pellinis Grundgefühl für Huberts Hinfälligkeit ist eine Sympathie, der Verklärendes und Verschleierndes fremd sind. Der Roman spart nicht mit Hinweisen darauf, dass die Autorin ihr Sujet kennt, vielen ihrer Sätze ist die Erfahrung mit der Pflege dementer Menschen anzumerken. Mit 22 machte Pellini ihr Krankenschwesterndiplom, sie arbeitete auf internen Abteilungen und im Feriendorf „Störrischer Esel“ auf Korsika, wo sie die Krankenstation leitete. Sie war in Sanatorien und Seniorenheimen beschäftigt, Teil des Teams einer Bregenzer Wohngruppe namens „Anderswelt“ mit zwölf Demenzpatientinnen und -patienten.
Hubert hat sich ebenfalls in die Anderswelt zurückgezogen. 42 Jahre lang war er Bademeister im Bregenzer Strandbad, nun verdunkelt der geistige Verfall jede Klarheit seines Denkens und Handelns. „Worte weg. Fertigkeiten weg. Erinnerungen weg.“ Es gibt viele dieser kargen, minimalistischen Szenen in „Der Bademeister ohne Himmel“. Erzählt werden die wenigen Wochen aus Huberts Leben von Linda, der 15-jährigen Nachbarin des Bademeisters, der einzigen Jugendlichen in einem Bregenzer Mehrparteienhaus zwischen alten Paaren und alleinstehenden Menschen. Linda hadert mit Mathematik, der Welt und sich selbst – was zugleich Stärke und Schwäche des Romans ausmacht. Ganz kann sich Pellini nicht entscheiden, ob Linda ihre Geschichte vom großen Glück in den kleinen Dingen als entwaffnende Schnodderton-Saga oder als herzerwärmendes Rührstück berichten soll. „Wir leben, lachen, lästern und wir sterben“, bringt Linda ihren altersgemäßen Fatalismus auf den Punkt: „Während der eine hinter der Bar zwei Liter Zitronensaft presst und Holzspieße mit Erdbeeren oder Oliven bestückt, steht der andere im Operationssaal und baut künstliche Herzklappen ein.“ Schade, dass sie bald wieder jäh Richtung Kalenderspruch abbiegt: „Es gibt eben eine Sprache, die von Herzen kommt. Eine Sprache ganz ohne Worte.“