Sloweniens Philosophie-"Enfant terrible" Slavoj Žižek im Gespräch
profil: Sie bestellen frühmorgens schon Cola Zero? Slavoj Žižek: Warum nicht? Das ist übrigens ein sehr interessantes Getränk. Ich kenne einen auf Jacques Lacan spezialisierten Psychoanalytiker in Atlanta, dessen Bruder im Coca-Cola-Konzern arbeitet. Dort hat man entdeckt, dass Männer einen starken Widerstand gegen die Light-Variante verspüren, die ihnen zu feminin erscheint. Sie ertragen nur das Radikale, das Dunkle, die absolute Kalorien-Null: Coke Zero. Sehr stalinistisch!
profil: Nun hat man Ihnen leider gerade ein Cola Light hingestellt. Das Feminine daran stört Sie hoffentlich nicht? Žižek: Mir ist das völlig egal.
profil: Sehr tolerant! Žižek: Ja, aber genau das ist auch mein Problem. Ich versuche in der Öffentlichkeit, einen Stalinisten darzustellen, aber inzwischen weiß leider jeder, dass ich privat nichts als ein braver Liberaler bin.
profil: Ein Softdrink-Schwächling. Žižek: Ja, ich bin so verdammt liberal, meine Güte! Trotzdem gibt es immer noch Feuilletonisten, die mir die fürchterlichsten Dinge unterstellen: dass ich pro Al-Kaida sei, einen neuen Holocaust befürworte, unablässig nur die Gewalt feiere. Unglaublich.
profil: Gehört es nicht zu Ihren Strategien, durch ideologische Provokationen in alle Richtungen Debatten zu entzünden? Žižek: Opportunismus kann mir niemand unterstellen. Ich passe meine Texte weltanschaulich nicht den Zeitungen an, in denen ich publiziere. Mein Buch "Willkommen in der Wüste des Realen“ wurde in der ägyptischen Tageszeitung "Al-Ahram“ wegen meiner angeblich perfiden Verteidigung des Zionismus verrissen, in der "Jerusalem Post“ wurde sie des brutalsten Antisemitismus geziehen. Das ist doch großartig! Ich mag Sartre zwar nicht, aber er hat etwas Schönes gesagt: Wenn man für einen Text von beiden Seiten her attackiert werde, sei dies eines der wenigen verlässlichen Zeichen dafür, dass man sich auf dem richtigen Weg befinde.
profil: Und trotzdem fühlen Sie sich missverstanden? Žižek: Es wird einfach viel Unsinn über meine Arbeit geschrieben. Sogar die Verlagshäuser, die meine Bücher veröffentlichen, machen mir oft einen Strich durch die Rechnung. Die Leute vom Penguin-Verlag strichen bei "Trouble in Paradise“ (2014) einfach das Wort "Kommunismus“ aus dem Untertitel, erpressten mich mit der Ansage, andernfalls werde das Buch nicht erscheinen. Mit Suhrkamp bin ich auch unzufrieden, daher steige ich jetzt zu Fischer um. Suhrkamp brachte 2014 ein Buch heraus, das ich gar nicht mag: "Zizek’s Jokes“.
Mein Dogma ist dies: Der Kampf gegen die Übeltaten Israels und der Kampf gegen den Antisemitismus sollten ein und dasselbe sein.
profil: Sie kämpfen gegen alles politisch Korrekte? Žižek: Vor allem gegen die typisch linksliberale politische Korrektheit in Europa, derzufolge man Islamophobie vermeiden müsse, auch wenn die Palästinenser manchmal zu weit gingen. Mein Dogma ist dies: Der Kampf gegen die Übeltaten Israels und der Kampf gegen den Antisemitismus sollten ein und dasselbe sein. Sind sie es nicht, kriegen wir erhebliche Probleme.
profil: Die Philosophie hat in den vergangenen Jahren merklich an Hipness gewonnen. Theoretiker wie Giorgio Agamben, Byung-Chul Han und Jacques Rancière werden fast wie Pop- und Medienstars behandelt. Sie gehören auch in diese Riege. Žižek: Ja, leider. Wäre ich Zyniker, würde ich sagen, es erzählt eine Menge über die gegenwärtige Verfasstheit der Welt, wenn ein Mensch wie ich darin für relevant gehalten wird.
profil: Ist der Glamourfaktor, der Sie umgibt, tatsächlich lästig für Sie? Ist er nicht Ihr Geschäftsmodell? Žižek: Nein. Geschäft heißt Geld und Einfluss. Ich bin alles andere als einflussreich, bin kein Teil des herrschenden Systems. Ich kreiere keine Arbeitsplätze, vergebe keine Stipendien. Und ich schade denen, die ich unterstütze, oft sogar. Ruhm ist zwiespältig. Meine Referate werden von vielen auch deshalb besucht, weil ich angeblich so unterhaltsam, allerdings nicht ernst zu nehmen seien. Mein sogenannter Ruhm basiert zu einem Gutteil darauf, dass man mich für einen unschuldigen Clown hält.
profil: Wollen Sie etwa sagen, Sie legten es nicht auf Unterhaltungswert an? Žižek: Doch, schon. Denn die Theoretiker, die mir am nächsten sind, Lacan und Hegel, gelten als extrem komplex, als praktisch unlesbar. Meine Obsession dagegen ist es, die Dinge deutlich zu machen - auch mir selbst übrigens. Ich halte Witze, wenn sie Substanz haben, für eine gute Methode, um schwierige Sachverhalte zu erklären. Und alle großen Philosophen haben letztlich einen Zug ins Ironische. Es wäre beispielsweise lustig, eine Liste aller schmutzigen Andeutungen bei Hegel zu erstellen. Der einzige Philosoph, bei dem man so gut wie nichts an Humor oder wenigstens brutaler Ironie findet, ist Heidegger. Bislang konnte in seinem Werk nur eine einzige Textstelle aufgespürt werden, die annähernd ironisch zu verstehen ist: Sie richtet sich gegen Lacan. Nach einem Besuch des Franzosen bei ihm schrieb Heidegger, dass Lacan ein Psychiater sei, der selbst einen Psychiater brauche. Aber ja: Ich mag Provokationen, denn aus dem Schock folgt oft Erleuchtung.
profil: Sie beanspruchen Kompetenz auf unzähligen Wissensgebieten. Žižek: Tue ich das? Wenn ich über Phänomene wie Syriza, Thomas Piketty, die Ökonomie oder außenpolitische Themen schreibe, geschieht dies oft nur, weil ich finde, ich müsse eine Lücke schließen. Meine Ideen sollten andere haben, denke ich, aber es passiert nicht. Ich fühle da nicht nur meine Inkompetenz, sondern auch Frustration und den dringenden Wunsch, dass bestimmte Debatten von Leuten geführt werden, die mehr als ich davon verstehen.
Egal, ob es gerade einen Tsunami gegeben oder ob Boko Haram Gräueltaten in Nigeria verübt hat: Man bittet uns Philosophen, doch zu erklären, was das alles bedeute, wie das möglich sei.
profil: Inkompetenz signalisieren Sie aber nicht. Bringen Sie als renommierter Philosoph nicht per se mehr Gewicht in jede Debatte ein? Žižek: Um Philosophen ranken sich so viele Mythen. Sogar Leute, die Philosophie offiziell geringschätzen, erwarten von uns, dass wir mehr wüssten als sie. Egal, ob es gerade einen Tsunami gegeben oder ob Boko Haram Gräueltaten in Nigeria verübt hat: Man bittet uns Philosophen, doch zu erklären, was das alles bedeute, wie das möglich sei. Man projiziert etwas auf uns, obwohl man uns eigentlich verachtet. Und es ist vielleicht wahr: Obwohl wir auf der Ebene des Wissens keine probaten Antworten parat haben mögen, können wir etwas beitragen. Denn Philosophie ist selbstkritisch. Sie kompliziert die Dinge, um andere Perspektiven zu erlauben.
profil: Philosophiestars wie Sie oder Bernard-Henri Lévy … Žižek: Nennen Sie uns bitte nicht in einem Atemzug. Lévy ist kein Philosoph, nur ein Intellektueller, und er ist ein Opportunist. Ich sage das nicht, weil er Zionist ist. Mit Alain Finkielkraut, der viel weiter rechts steht als Lévy, bin ich gut befreundet - weil er viel konsequenter ist.
profil: Wenn Sie in einem Artikel für die linke griechische Syriza Partei ergreifen, so ist das ein politisches Statement. Lévy beispielsweise trat für den Krieg gegen Libyen ein. Sollten Philosophen derart konkret politisch intervenieren? Žižek: Natürlich! Das war doch immer so. In Ramallah erklärte ich vor ein paar Jahren, man müsse vorsichtig sein mit der Stilisierung der Westbank zum ultimativen Leidensgebiet. Im Albtraumland Kongo würden viele Menschen liebend gerne ihre Mütter an Sklavenhändler verkaufen, wenn sie damit die Chance hätten, im Westjordanland zu leben.
profil: Für die Menschen in Palästina wird das ein schwacher Trost sein. Žižek: Natürlich! Ich unterstütze die - übrigens absolut gewaltfreie - Israel-Boykott-Kampagne BDS!
profil: Aber Philosophen werden für die Dinge, die sie behaupten, nie zur Verantwortung gezogen. Politiker können abgewählt werden, Philosophen nicht. Žižek: Stimmt. Aber Philosophen sind auch heftigster Kritik ausgesetzt. Heidegger etwa: ein Mega-Philosoph, der sich mit seinen Thesen zur angeblichen "Selbstvernichtung“ der Juden im Holocaust leider selbst schwer beschädigt hat. Die schlichte Kriminalisierung Heideggers, für die Habermas und seine Gleichgesinnten eintreten, halte ich dennoch für falsch. Damit geht man dem Problem aus dem Weg: der Frage nämlich, wie jemand so brillant und zugleich so obszön sein konnte.
Wenn wir heute über Rassismus oder Sexismus diskutieren, ist meine erste Reaktion stets: Stellen wir da überhaupt die richtigen Fragen?
profil: Alain Badiou sagt, die Philosophie verbinde Dinge miteinander, die scheinbar nicht zueinander gehören. Ist das nicht exakt Ihre Vorgangsweise: Überraschung durch kühne Assoziation? Žižek: Ja, und ein authentischer Philosoph wird auf die Frage nach einem bestimmten Problem nicht sofort mit einer Antwort reagieren, sondern zunächst fragen, ob dies das eigentliche Problem sei. Wenn wir heute über Rassismus oder Sexismus diskutieren, ist meine erste Reaktion stets: Stellen wir da überhaupt die richtigen Fragen? Warum übersetzen wir Rassismus und Sexismus automatisch in die Kategorien Toleranz und Schikane? Martin Luther King etwa hat den Begriff Toleranz nie verwendet. Wenn man sehr reale Probleme in ganz andere verwandelt, kommt Ideologie ins Spiel. Und die schreibt eben vor, man habe Toleranz zu lernen. Das ist die typische Kulturalisierung der Politik: als sei unser Hauptproblem nicht die ökonomische Ausbeutung, sondern die Unfähigkeit, andere zu tolerieren.
profil: In der Toleranz verbirgt sich ja auch eine unangenehme Hierarchie: Die einen tolerieren, die anderen werden toleriert. Žižek: Das ist die Doppelbödigkeit des Rassismus: Der scheinbar Tolerante attackiert andere, weil sie nicht so tolerant sind wie er. Das zeigte auch der Fall "Charlie Hebdo“. Natürlich verdamme ich den Terror gegen die Karikaturisten rückhaltlos, nenne ihn sogar Islamofaschismus. Aber die Illusion der Freiheit ist trügerisch. Jede Zivilisation hat ihre Intoleranz, kann bestimmte Dinge nicht dulden. An die generelle Arroganz gegen die Araber haben wir uns alle gewöhnt, aber versuchen Sie mal, den Holocaust zu ironisieren! Ich sage nicht, dass dies erlaubt sein sollte. Aber mein Freund Peter Sloterdijk, mit dem ich politisch keineswegs übereinstimme, hat ganz recht, wenn er der linken Idee der Integration und des gegenseitigen Verständnisses misstraut. Vielleicht brauchen wir einfach wieder mehr Entfremdung. Die echte Freundschaft bestünde dann darin, zu akzeptieren, dass stets ein Abstand zwischen den Menschen bleibt. Man kann einander als Fremde auch höflich ignorieren - und gegebenenfalls eine Art zwanglose Annäherung wagen. Das Problem geht auf die Wirtschaft zurück: Der globalisierte Markt hat sehr verschiedene Kulturen allzu jäh miteinander in Kontakt gebracht. Ist es nicht seltsam, dass Mohammed-Karikaturen, die in einer lokalen dänischen Tageszeitung erscheinen, die wütenden Proteste Tausender Menschen in Pakistan provozieren? Wir sitzen plötzlich alle im selben Boot. Der beste Weg, mit dieser Situation umzugehen, besteht nicht darin, Nähe zueinander aufzubauen, sondern Distanz zu halten.
profil: Friedliche Distanz. Žižek: Absolut. Distanz ist sogar eine Bedingung des Friedens. Das hasse ich so am politisch korrekten Denken: Es hat stets diese Über-Ich-Dimension. Wir glauben, die Araber zu kennen. Aber was wissen wir schon? Die Liberalen mögen es eben, sich schuldig zu fühlen. Deshalb geben sie beispielsweise dem Neokolonialismus die Schuld an den Massakern in Ruanda - als wären Schwarze zum Sadismus gar nicht fähig. Als ich für ein Referat nach Missoula im US-Bundesstaat Montana kam, hatte ich so etwas wie eine Epiphanie - passenderweise in der Heimatstadt von David Lynch: Ich traf dort eine Gruppe von Indianern, und ich verwende diesen Begriff absichtlich; denn den offiziellen Ausdruck "native Americans“ hassen diese Leute, weil es klingt, als seien sie das naturverbundene Gegenstück zu den weißen "cultural Americans“. Sie sagten mir, wenn man sie weiterhin "Indianer“ nenne, sei ihr Name wenigstens so etwas wie ein Monument der Idiotie des weißen Mannes. Denn die ersten Besetzer hatten einst ja geglaubt, in Indien gelandet zu sein.
profil: Sie sind ein erklärter Freund der griechischen Regierungspartei Syriza und besonders von Finanzminister Yanis Varoufakis. Macht er die Politik, die sich ein Marxist wünscht? Žižek: Ich unterstütze Syriza nicht einfach, weil diese Partei so viele gute Dinge tut. Mir geht es um Europa. Ich kenne Varoufakis, und es stimmt, wir sind befreundet. Ich kann nicht verstehen, warum er besonders in deutschen Medien so verteufelt wird. Sein Argument lautet: Ja, wir Griechen sind schuldig, wir haben verrückte Dinge getan. Aber nach sieben Jahren Austerität und einer damit einhergehenden Schuldenexplosion ist die neue Syriza-Politik die einzige Chance für die Gläubiger, wenigstens einen Teil ihres Geldes zurückzubekommen.
profil: Gesetzt den Fall, Varoufakis hätte recht - wer könnte etwas dagegen haben? Žižek: Was die europäischen Gläubiger hassen, ist die Tatsache, dass die Griechen zugeben, sich verschuldet zu haben, dabei aber keine Schuld empfinden. Außerhalb Kontinentaleuropas - in Großbritannien, in den USA - begegnet man der griechischen Regierung mit viel mehr Verständnis. Europa hat keine konsistente Idee, wie es weitergehen soll, außer Griechenland zu bestrafen und zum Sparen zu zwingen. Daraus wird ein geteiltes Europa resultieren, ein entwickelter und ein unterentwickelter Teil. Das wird das Ende Europas sein.
Ich glaube nicht, dass die Mächtigen tatsächlich ihr Geld zurückbekommen wollen. Sie wollen vielmehr, dass wir verschuldet bleiben, so wird unser Schuldgefühl perpetuiert.
profil: Warum handeln die europäischen Gläubigerstaaten Ihrer Meinung nach so unvernünftig? Žižek: Der linke italienische Ökonom Fabrizio Lazzarato schreibt, dass Schulden sowohl auf der Ebene der Staaten als auch der Individuen das geeignetste Mittel zur Disziplinierung seien. Wir haben alle Schulden, deshalb kann man uns kontrollieren. Ich glaube nicht, dass die Mächtigen tatsächlich ihr Geld zurückbekommen wollen. Sie wollen vielmehr, dass wir verschuldet bleiben, so wird unser Schuldgefühl perpetuiert.
profil: Aber handelt die Syriza-Regierung wirklich links? Sie hat bisher darauf verzichtet, den Reedern Steuern abzuknöpfen, sie hat die Steuern für Reiche nicht erhöht, lässt die griechisch-orthodoxe Kirche in Ruhe, und sie sympathisiert mit dem autoritär regierenden russischen Präsidenten Putin. Žižek: Was die Reeder angeht: Syriza ist in einer Koalition mit der rechten Partei Anel, hinter der auch mehrere Reeder stecken sollen. Varoufakis hat mir erklärt, Syriza habe den ganzen Staatsapparat gegen sich. Die Kunst des Regierens besteht heute darin, präzise Maßnahmen zu finden, deren Umsetzung einen echten Unterschied macht - so wie das US-Präsident Obama mit der allgemeinen Krankenversicherung gelungen ist. Das hat die US-Ideologie in ihren Grundfesten erschüttert. Syriza hat mit der Weigerung, die Austerität fortzusetzen, auf ähnliche Weise einen empfindlichen Punkt getroffen.
profil: Alles andere spielt in Ihrer Beurteilung der Syriza-Regierungspolitik keine Rolle? Žižek: Doch. Ich war erstmals sauer auf Syriza, als Alexis Tsipras, noch ehe er Premier wurde, in Belgrad den serbisch-orthodoxen Erzbischof traf und von der ewigen Freundschaft zwischen dem serbischen und dem griechischen Volk schwärmte. Lauter Quatsch! Was Putin betrifft, ist es bloße Verzweiflung, die Tsipras in seine Arme treibt. Ich weiß, dass die russische Regierung Athen mitgeteilt hat: Wir können euch retten, wenn ihr uns dafür für die Dauer von 100 Jahren eine Insel gebt, damit wir dort eine Militärbasis errichten können. Darauf wird Syriza nicht einsteigen. Aber es stimmt, manche in dieser Regierung sind pro-russisch. Ich glaube, sie sind einigermaßen verwirrt. Darf ich etwas Zynisches sagen? Sie haben zu viel Freiheit, sie brauchen ein starkes Zentralkomitee.
profil: Und warum besteuert Syriza die Reichen nicht stärker? Žižek: Wegen des freien Kapitalverkehrs.
Das progressive europäische Erbe - der Wohlfahrtsstaat, Gleichheit, Feminismus - ist bedroht.
profil: Wenn eine linksradikal geführte Regierung keine Reichensteuern einführen kann, ist dann nicht jede Ankündigung, auf faire Weise den Staat zu finanzieren, ein Schwindel? Žižek: Nein. Es geht nicht darum, Steuern zu erhöhen oder einzuführen, sondern darum, die bestehenden Steuern einzutreiben. Varoufakis ist kein verrückter Linker. Ich stimme Ihrer Kritik an der Regierung zu, aber sie schreiben ihr zu viel Handlungsfreiheit zu. Ich liebe die Syriza, und ich glaube, sie opfert sich. Sie hat etwas ausgelöst, was für das Überleben Europas wichtig ist. Mein Gott, wir sind hier in Wien, zwei Kilometer von der Berggasse (der Wohnung Sigmund Freuds, Anm.) entfernt! Heute ist die Frage nicht mehr: "Was will das Weib?“ Sondern: "Was will Europa?“ Das progressive europäische Erbe - der Wohlfahrtsstaat, Gleichheit, Feminismus - ist bedroht. Der Kapitalismus benötigt Europas Werte nicht mehr, er funktioniert in Asien besser.
profil: Sie argumentieren oft, in einer liberalen Demokratie gebe es keine Möglichkeit zu echtem Wandel. Der Gegenbeweis: Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien. Žižek: Es gibt von Zeit zu Zeit eben auch Wahlen, die bedeutsam sind.
profil: Also mögen Sie die liberale Demokratie doch? Žižek: Provozieren Sie mich nicht!
profil: Wir tun unser Bestes. Žižek: Demokratie sollte nicht als Betrug abgetan werden. Ich bin gegen diese Idee von lokaler Mitbestimmung, wo dauernd alles debattiert wird. Wir müssen den starken, effizienten Staat stärken. Dazu braucht es Bürokratie, werden Sie sagen. Stimmt, und wir müssen einen Weg finden, diese nicht-totalitär zu organisieren. Auch deshalb mag ich Syriza. Sie startete als soziale Bewegung, aber sie scheute nicht davor zurück, das Risiko auf sich zu nehmen, die Verantwortung im Staat zu übernehmen.
profil: Sie haben unlängst im Wochenblatt "Die Zeit“ geschrieben, je toleranter wir mit dem Islam umgingen, desto fordernder werde er. Heißt das, wir sollten weniger tolerant gegenüber dem Islam sein? Žižek: Jedenfalls sollten wir dort weniger tolerant sein, wo der Islam Intoleranz verdient. Ich weiß, ich bewege mich da auf gefährlichem Terrain. Ich bin absolut gegen Islamophobie, aber im letzten Kapitel jenes Büchleins, das ich zu diesem Thema unlängst an einem Nachmittag komponierte, sage ich Folgendes: Der Islam ist wie jede andere Religion sehr opportunistisch. Die Art, wie du andere Kulturen behandelst, ist Teil deiner eigenen Kultur. Man ist nie neutral. Und ich mag die Idee der Leitkultur. Jetzt sage ich etwas für Multikulturalisten vermutlich sehr Problematisches: Ich denke, wir sollten ganz schamlos auf jene Haltungen bestehen, die unser kulturelles Erbe ausmachen - etwa die Frauenrechte. In Slowenien gab es unlängst den Fall eines zwölfjährigen Roma-Mädchens, das von seinen Eltern verheiratet werden sollte und, weil es sich weigerte, zur Polizei lief. Natürlich sprangen dem Mädchen alle feministisch bewegten Slowenen zur Seite. Die Roma-Community meinte, dies sei eben ein unlösbarer Konflikt, denn wenn man ihnen den Brauch der arrangierten Hochzeit Minderjähriger nähme, lösche man die Grundlage ihrer sozialen Identität aus. Dann bliebe nur die Folklore übrig.
profil: Und Sie würden dieses Mädchen vor solchen Traditionen also schützen wollen? Žižek: Natürlich. Ein anderes Beispiel: In Istanbul hatte man mich, als in der Schweiz die Minarette verboten worden waren, gebeten, im Fernsehen zu jenem Problem zu sprechen - in der Hoffnung natürlich, dass ich als Linker die Schweiz attackieren, die falsche westliche Toleranz bloßstellen würde. Nun habe ich aber eine türkische Freundin, die mir erzählt hatte, dass in ihrem Land nur noch pro-islamische Neubauten erlaubt waren. Also sagte ich, dass es dreist sei, sich gegen das Verbot von Minaretten zu stellen, wenn man im eigenen Land nicht nur eine, sondern alle Arten von neuer nicht-islamischer Architektur verbiete. Ich finde tatsächlich, wir sollten viel arroganter sein: Ja, wir haben in Europa Werte, auf die wir stolz sind. Aber dann heißt es natürlich, wir Europäer beuteten die Frauen doch auch nur aus, indem wir sie sexistisch zu Objekten machten. Darauf muss man jedoch antworten, dass diese Art der Kritik bereits vor dem Hintergrund der Aufklärung stattfindet. Und darin bin ich total eurozentristisch: Denn die westliche Zivilisation ist die einzige, die über eine bereits eingebaute Selbstkritik verfügt.
Slavoj Žižek, 66,
zählt zu den populärsten Philosophen und Kulturtheoretikern unserer Zeit. In Anlehnung an die Lehren des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan kreisen Žižeks Theorien meist um gegenwärtige soziologische Problemstellungen und aktuelle Phänomene kultureller Praxis - Film und Oper sind zwei Hauptgebiete seiner Auseinandersetzung. In Ljubljana geboren, studierte Žižek in seiner Heimatstadt Philosophie sowie Psychoanalyse an der Université Paris VIII. Er unterrichtet an der Universität Ljubljana und ist als Gastprofessor an mehreren US-Universitäten tätig. Zuletzt erschien im Suhrkamp-Verlag seine voluminöse Hegel-Studie "Weniger als nichts“, übersetzt von Frank Born.
Das profil-Interview mit Žižek fand anlässlich des Wien-Besuchs des slowenischen Philosophen vor wenigen Wochen statt, als er auf Einladung des Sigmund Freud Museums im ausverkauften Wiener Burgtheater die 42. Freud-Vorlesung hielt: ein Referat über Theologie, Negativität und Todestrieb.