Philosophin Isolde Charim: „Wir quälen uns selbst“
Die Wiener Philosophin Isolde Charim stellt in ihrem neuen Buch überraschende Fragen zum alten Thema Narzissmus. Einige Antworten gibt sie uns hier.
Sie haben Ihr Buch „Die Qualen des Narzissmus“ genannt. Wer peinigt hier wen?
Charim
Wir quälen uns selbst. Wäre die Instanz, die einen unterwirft, außerhalb von uns, eine äußere Autorität, könnte man sich dagegen wehren. Das Raffinierte daran ist jene tiefe narzisstische Verstrickung, die einen von innen her malträtiert.
Über den Narzissmus existieren ganze Bibliotheken. Weshalb noch ein Buch zum Thema?
Charim
Weil es das Phänomen ist, das unsere gegenwärtige Normalität bestimmt. Um dies zu erfassen, muss man Narzissmus neu verstehen. Dazu muss man ihn doppelt abgrenzen: Zum einen ist Narzissmus nicht gleich Egozentrik und übertriebene Selbstliebe. Im Zentrum steht nicht das Ich, sondern das Ich-Ideal, eine psychische Instanz. Zum anderen geht es dabei nicht um eine Pathologie, um eine Charakterstörung. Ich borge mir vielmehr Freuds Begriff aus, um die neue gesellschaftliche Normalität darzustellen.
Isolde Charim, 63,
mischt sich gern ein. Die diesjährige Staatspreisträgerin für Kulturpublizistik war einst Mitbegründerin jener Plattform, die im Februar 2000 eine Großdemonstration gegen die schwarz-blaue Regierung organisierte. Nach dem Großessay „Ich und die Anderen“ (2018) geht die Philosophin und Autorin in ihrem neuen Buch „Die Qualen des Narzissmus“ (Zsolnay, 224 S., EUR 24,70) sozialen Spaltungstendenzen auf den Grund.
Gibt es so etwas wie guten Narzissmus?
Charim
Mit „gut“ und „schlecht“ kommt man nicht sehr weit. Narzissmus ist vielmehr die Art, wie die heutige Konkurrenzgesellschaft funktioniert.
Der Duden definiert Narzissmus als „Ichbezogenheit“. Wäre „Wirbezogenheit“ denn korrekter?
Charim
Nein, das trifft es beides nicht. Der Narzisst ist ein gespaltenes Subjekt, er ist uneins mit sich selbst. Ihn treibt die unerreichbare Idealvorstellung eines besseren Ichs an. Die narzisstische Formel lautet deshalb: immer mehr. Insofern sind wir Narzissten unglückliche Subjekte: ständig auf der Suche nach unserem Ideal, das uns dennoch unerreichbar bleibt. Jahrhundertelang hat die Gesellschaft viel aufgeboten, um diese selbstsüchtigen Tendenzen einzudämmen. Durch Religion oder durch Moral. Heute leben wir in einer Welt, die diese Selbstbezogenheit nicht mehr eingrenzt, sondern vielmehr befördert und uns abverlangt – allerdings ohne jeden Zwang. Narzissmus funktioniert nur, wenn ihm Formen der Befriedigung in Aussicht gestellt werden. Insofern ist er keine individuelle Pathologie, sondern eine gesellschaftliche Struktur, in der wir alle verfangen sind.
Was uns am Ende nicht zum Vorteil gereichen wird.
Charim
Sicher nicht. Der Narzissmus als gesellschaftliche Struktur ist einzig darauf ausgelegt, dass wir alle funktionieren.
„Über freiwillige Unterwerfung“, so lautet der Untertitel Ihres Buchs.
Charim
Die Frage lautet: Was bringt Menschen dazu, von allein zu funktionieren? Freiwillige Unterwerfung erlebt man nicht als solche, man empfindet sie vielmehr als eine Art Ermächtigung. Man unterwirft sich dem Ideal auf der Suche nach der narzisstischen Befriedigung. Zugleich vermittelt uns die Gesellschaft auf allen Ebenen: Hier kannst du narzisstische Befriedigung erleben und finden! Das ist jedoch ein rein illusionäres Versprechen, das die gesellschaftlichen Verhältnisse stützt und uns antreibt, von allein zu funktionieren.
Sie schreiben, der Narzissmus sei eine „Sackgasse“. Sind wir noch zu retten?
Charim
Wir haben auch vorher nicht im Paradies gelebt. Der gesellschaftliche Narzissmus ist allerdings keine erfreuliche Entwicklung. Ihm wohnt etwas Unentrinnbares inne.