Pianist Igor Levit: Der Mutwillige
"Ich bin ein offener Mensch, bin mir aber sehr bewusst darüber, was ich über mich erzähle und was nicht." Das sagt einer, den man inzwischen in- und auswendig zu kennen glaubt- durch seine CD-Bestseller, seine umjubelten Auftritte und seine zahllosen unverstellten Twitter-Beiträge - und durch seine über 50 Hauskonzerte, die er zu Beginn der Pandemie, zwischen März und Mai 2020, vom privaten Flügel in Berlin Mitte aus streamte. Hunderttausende schauten zu. Bei den Salzburger Festspielen im vergangenen Sommer waren es 500 Glückliche, die seinen Beethoven-Zyklus feierten. Jetzt gibt es seine Gedanken zwischen Buchdeckeln. Der Titel: "Hauskonzert", natürlich.
Igor Levit, 34 Jahre alt. Deutscher Pianist russischer Herkunft. Er begeistert und spaltet, er provoziert und polarisiert. Ist er Genie oder Scharlatan, Besserwisser oder Tastenzauberer, Einmischer, Aufrührer oder Friedensbotschafter? Jedenfalls ist er einer, der sich nicht mit der Enge der 88 Klaviertasten zufriedengeben will. Igor Levit besitzt Mitteilungsdrang; auf den sensiblen Künstler lässt er sich nicht reduzieren. Er spielt einen zeitgenössisch zugespitzten Beethoven und hat auch sonst ein überraschendes Repertoire. Über Klimaschutz und AfD will er trotzdem öffentlich sprechen. Als einer der gegenwärtig berühmtesten Klassikkünstler ist er auch bekennendes Mitglied der Grünen.
Der griechisch-russische Dirigenten-Guru Teodor Currentzis ruft ebenfalls extreme Reaktionen hervor, aber diesem geht es in der Regel nur um Musikalisches. Igor Levit ist, ähnlich wie vor ihm (auch in seiner Liebe zum Jazz) der große Friedrich Gulda, ein sehr weltlicher, konkreter Künstler. Und auch wenn seine politischen Äußerungen selten wirklich radikal sind: Er eckt an, wie alle, die eine starke Meinung vertreten. Als Jude, dem Religion selbst nicht wichtig ist, erzählt er für sein Leben gern jüdische Witze. Und einschüchtern lässt er sich nicht, auch wenn er Morddrohungen erhält und Konzerte unter Polizeischutz spielen muss.
Intimität und Freiheit findet Levit vor allem im Konzertsaal. "Es herrscht große Verunsicherung", betont Levit im profil-Gespräch. "Die gesamte Kunst-und Kulturwelt fährt seit über einem Jahr nur auf Sicht, ohne jede Planungssicherheit." Trotzdem ging er kreativ mit diesem Un-Zustand um. "Es war für mich auch ein Jahr der Emanzipation", erzählt er: "Ich will Musik machen, diese aber auch teilen können. Es war ein schweres Jahr. Wir alle hatten nicht die Freiheit, das zu tun, was wir eigentlich wollten. So war es gut, auch dieses ganz andere, für mich ungewöhnliche Projekt zu haben." Das Projekt also, das er neben den Aufnahmen für ein neues Album in Angriff nahm: ein Buch über sich selbst und seine Verfasstheit, gemeinsam geschrieben mit dem "Zeit"-Journalisten Florian Zinnecker. Durch den Lauf der Ereignisse musste es immer wieder neu konzipiert werden, am Ende geriet es ein wenig geschwätzig, aber auch sehr authentisch. Und es gewährt tiefe Einblicke in eine komplexe Künstlerseele, liest sich besser und ehrlicher als etwa die fast geklont wirkenden Bekenntnisbücher der Dirigenten Franz Welser-Möst und Philippe Jordan.
"Ich wollte eigentlich kein Buch über mich selbst schreiben", versichert Levit. Aber dann stimmte die Chemie mit Zinnecker. "Also haben wir uns gemeinsam auf dieses Projekt eingelassen. Wir haben es zusammen komponiert, und ja, ich finde mich darin wieder. Was beispielsweise meine Mutter darin erzählt, hat mich unglaublich berührt."
Der meinungsoffene, souveräne, bisweilen fast kindliche Klavierkünstler ist eben "Bürger. Europäer. Pianist"-so ruft es einem seine Website entgegen. Der Hypermotorische, Dauerplappernde, Fragende, Erkundende, um Zuneigung Ringende, Überraschende und Mutwillige ist schlicht einer der relevanten Künstler unserer Zeit. Mit Beethoven und Twitter.
Igor Levit und Florian Zinnecker: Hauskonzert. Hanser, 304 Seiten, 24 Euro