Strengstes Reiseverbot für Bruegels "Turmbau zu Babel" (1563)

Programmierter Blockbuster: Pieter Bruegel der Ältere im KHM

Pieter Bruegel der Ältere gehört zu den großen Rätselfiguren der Kunstgeschichte. Das Wiener Kunsthistorische Museum zeigt die weltweit erste umfassende Gesamtschau des flämischen Malers. Eine Spurensuche durch die Jahrhunderte.

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Mit großer Geste wurde der Vorhang gelüftet. Darunter kam der „Turmbau zu Babel“ von Pieter Bruegel dem Älteren zum Vorschein, den Kulturminister Gernot Blümel in der ORF-Sendung „Kulturmontag“ analysieren durfte. Ein gutgläubiger Zuseher musste den Eindruck gewinnen, das Werk sei für diese Präsentation Anfang Mai extra vom Wiener Kunsthistorischen Museum (KHM) auf den Küniglberg transportiert worden. Das war natürlich nicht der Fall: Man hatte lediglich ein Faksimile ausgeliehen. Das Original zählt zu den wertvollsten und prominentesten Werken, die das Haus besitzt. Strengstes Reiseverbot.

Dem Schöpfer der Szenerie, Pieter Bruegel dem Älteren (1525/39–1569), widmet das Museum ab 2. Oktober eine imposante Schau, die größte, die es je gab. 40 Gemälde, 60 Zeichnungen und 80 Grafiken aus der Hand des Meisters sind erhalten; das Wiener Haus besitzt mit zwölf Tafelbildern die weltweit größte Sammlung von Gemälden. Das Kuratorenteam (Elke Oberthaler, Sabine Pénot, Manfred Sellink, Ron Spronk) hat rund 90 Werke zusammengestellt, davon ein Drittel Gemälde. Schon jetzt lässt sich prognostizieren, dass sich die Schau mit dem schlichten Titel „Bruegel“ als Kassenschlager erweisen wird (siehe auch Seite 88). profil wirft einige Schlaglichter auf den Maler, der in famosen Wimmelbildern den Alltag seiner Zeit abbildete, Zeitgenossen ironisch aufs Korn nahm und die Landschaftsmalerei neu erfand.

„Überwältigende Hinterteile“

Das Antwerpen des 16. Jahrhunderts muss man sich als Pendant zum heutigen London oder Frankfurt vorstellen. Die Stadt hatte sich in wenigen Jahrzehnten zum Handels- und Finanzzentrum Europas entwickelt. Wohlhabende Kaufleute ließen als Mäzene die Kunst florieren. Ihr Star: Pieter Bruegel der Ältere, der Höchstpreise verlangte. Jahrzehnte später sollte sein gleichnamiger Sohn, Pieter Bruegel der Jüngere, mit Kopien und Imitationen seiner Werke viel Geld verdienen. Auch sein anderes Kind, Jan, wurde Maler; an die künstlerischen Erfolge des Vaters konnten die beiden allerdings nicht anschließen. Bruegel der Ältere war, wie damals üblich, in die Lehre gegangen, vermutlich bei dem Meister Pieter Coecke van Aelst und dessen Gattin Mayken Verhulst – durchaus bemerkenswert, waren Frauen damals doch eine Randerscheinung im Kunstbetrieb.

Liebe zum Detail: Bruegels "Kampf zwischen Fasching und Fasten" (1559)

Verhulst unterrichtete Bruegel wohl in der Miniaturmalerei. In seinen winzigen Figuren, die mit tausenderlei Aktivitäten beschäftigt sind, wirkt diese Lehre nach. Die Menschen auf den riesigen Holztafeln erzählen viel über das flämische Alltagsleben jener Zeit: Der „Turmbau zu Babel“ (1563) zeigt minutiös die damaligen Handwerkstechniken. „Kampf zwischen Fasching und Fasten“ (1559) beschreibt akribisch das Brauchtum. In der Grafik „Die Kirmes zu Hoboken“ (um 1560) pinkelt ein Mann von der Friedhofsmauer.

Überhaupt entleeren sich die Menschen in Bruegels Bildern oft; vor dem Banalen schreckte der Meister nicht zurück. „Wagemutig wurden die Flanken und Hinterteile der auf ihrem Weg bergab rhythmisch schwankenden Kühe im Vordergrund dargestellt“, schreibt Kurator Sellink über das Wiener Gemälde „Heimkehr der Herde“: „Wo sonst findet man solche überwältigenden Hinterteile an so prominenter Stelle im Bild?“ Was ebenfalls neu war: Bruegels Blick auf die Landschaft. Ausstellungskuratorin Sabine Pénot: „Bruegels Landschaften sind revolutionär. Auf diesem Gebiet hat er den größten Einfluss auf die Kunstgeschichte ausgeübt. Bei ihm wurde die Natur selbst zum Akteur.“ Im Gegensatz zu seinen Vorgängern breitete der Renaissancemaler Landschaften zudem auf großen Formaten aus: Was vorher nur als Hintergrund diente, bekam nun eigenständige Bedeutung. Die Kunst betrachtete die Natur nach Bruegel anders.

Bruegel und die Habsburger

Was könnte wohl einen Kaiser an so ausgesucht primitiven Gestalten interessiert haben? Der Habsburger Rudolf II. (1552–1612), der in Prag eine Kunstkammer gründete, kaufte schon früh Bruegels Bilder. Nicht nur das KHM kann daher heute auf beeindruckende Bestände verweisen, sondern auch die Albertina, die bereits 2017 Grafiken und Zeichnungen des Flamen präsentierte. Wie der Kunsthistoriker Bertram Kaschek erläuterte, war der Sammler Rudolf II. „stärker durch enzyklopädische Ambitionen als durch irgendeine Form von Spezialistentum geprägt“. Die Kunstkammer sollte die Welt spiegeln, nicht nur einen Ausschnitt davon. Zudem, so die Vermutung des Wissenschafters, signalisierte der Regent mit dem Kauf der Bruegels einen Herrschaftsanspruch an die nördlichen Niederlande, die damals zur spanischen Linie der Habsburger gehörten.

Zu den Highlights der Kollektion zählten die „Jahreszeitenbilder“; sie finden sich noch heute im KHM. Steht man vor ihnen, blickt man von einem erhöhten Standpunkt „hinab auf eine weite, zum Horizont auslaufende Landschaft, in der flämische Bauern ihren ländlichen Tätigkeiten nachgehen“. Der betrachtende Kaiser nehme die „Position des Jupiter“ ein, der „aus olympischer Höhe sein Reich überblickt“, so Kaschek.

Die Nachfolger des Kunstkaisers hatten ein sichtlich geringeres Faible für Bruegel. Alice Hoppe-Harnoncourt, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Schau, recherchierte minuziös, welchen Weg die Gemälde nahmen. Wie sie in einem Essay beschreibt, wurden die Bruegels schon wenige Jahre nach ihrem Ankauf von Prag nach Wien übersiedelt, später an wechselnden Orten präsentiert. Im 18. Jahrhundert wurden die Werke bis auf den „Turmbau zu Babel“ gar ins Depot verbannt, später verschwand ein weiteres Bild, die „Anbetung der Könige“ – und als es dem Direktor der Gemäldegalerie angeboten wurde, erhielt er nicht einmal Budget dafür. Bis 1891 zeigten die Habsburger in ihren Galerien nur einen Teil der Bruegels. Als schließlich das KHM am Burgring eröffnete, wurden alle zwölf Tafeln des Meisters präsentiert. Nach und nach begann man wieder, dessen Werk zu schätzen.

„Unerträglich roh“ oder „germanischer Weltmaler“?

Das Urteil fiel vernichtend aus: „In malerischer Beziehung ist der Bruegel meist gering, in den Kompositionen gleichgültig und zerfahren, in den Formen unerträglich roh, in den Farben zwar saftig und leuchtend, aber bunt und hart. In diesem allen steht er einer Anzahl besserer niederländischer Zeitgenossen weit nach.“ Das notierte der Kunsthistoriker Jacob Burckhardt 1874. „Heute sehen wir in Bruegel einen großen Meister. Das war nicht immer so“, sagt Expertin Pénot: „Im 18. Jahrhundert bis in die 1880er-Jahre gerieten Bruegel und sein Werk weitgehend in Vergessenheit, was vornehmlich der Geschichte des Geschmacks geschuldet ist.“ Dass er schon früh als „Bauern-Bruegel“ und als „Pieter der Drollige“ bezeichnet wurde, rückte ihn in die Nähe der Volkskunst. Doch das Blatt wandte sich, als Belgien unabhängig wurde: Ein Nationalkünstler musste her. Bruegel hatte sein gesamtes Arbeitsleben in Antwerpen und, ab 1563, in Brüssel verbracht, nur unterbrochen von einer Italienreise. Diese hatte jedoch in seinem Werk, das die flämische Landschaft und Bevölkerung ins Blickfeld rückte, nur marginale Spuren hinterlassen. Wer sollte sich somit besser als Aushängeschild einer jungen Nation eignen? „Die Wiederentdeckung des Genies Bruegel sowie der Beginn der Bruegel-Forschung sind von einem nationalen Unterton begleitet“, notierte Pénot.

Darwinismus. "Die großen Fische fressen die kleinen" (1557). Kupferstich von Pieter van der Heyden nach Bruegel

Sogar der NS-Kunstliteratur gelang es, ihn für sich zu reklamieren. Ein Autor der Zeitschrift „Kunst dem Volk“ fabulierte 1943: „In dieser innigen Verbundenheit von Bauer und Erde, der gleichen unerschütterlichen Ruhe beider, hat der Name ‚Bauern-Bruegel‘ seine tiefste Berechtigung. Der Bauer ist da wirklich Repräsentant der Menschheit.“ Und im „Völkischen Beobachter“ hieß es: „Das Licht der Wahrheit aber erstrahlt am hellsten in den Bildern Pieter Breughels (sic), den auszudeuten noch keine Zeit müde geworden ist, weil in ihm am fühlbarsten das Herz eines großen germanischen Weltmalers schlägt.“

Übermalte Leichen – zu radikal für die Nachwelt

Es ist ein rätselhaftes Bild: Soldaten stürmen ein Dorf. Doch worauf haben sie es abgesehen? Eine Gruppe Bewaffneter sticht mit Speeren Vögel ab. Eine Frau beugt ihren Oberkörper händeringend über einen Haufen von Geschirr und Brotlaiben. Ein Soldat hält einer Gans einen Säbel an den Hals – das Tier wird den nächsten Augenblick wohl nicht überleben.

Wer den Hintergrund dieses Bildes nicht kennt, ist verwirrt von diesen rätselhaften Mini-Dramen. Tatsächlich stellte das Bild Bruegels einst eines der grausamsten Sujets der Kunstgeschichte dar, den „Kindermord von Betlehem“. Doch später wurden alle Opfer entfernt. „Es gab einen Bruch in der Wahrnehmung, als seine Radikalität nicht mehr tragbar erschien“, sagt Pénot. Ähnliches entdeckte man auf einem Bild des KHM: In dem Werk „Kampf zwischen Fasching und Fasten“ wurden zahlreiche Stellen ebenfalls entschärft, wie auf Röntgen- und Infrarotaufnahmen sichtbar wird. Ein Leichnam in einem Wagen wurde verborgen. Zwei tote Kinder, die neben einem Bettlerpaar liegen, wurden buchstäblich dem Boden gleichgemacht.

Einen Verkrüppelten übermalte man. Pénot, die das Gemälde als humanistische Kritik an einer angeblichen Mildtätigkeit deutet, nennt diese späteren Änderungen „malerische Zensur“. Die Drastik Bruegels, der von seinem Landsmann Hieronymus Bosch und dessen fantastischen Dämonen beeinflusst wurde, erschien späteren Besitzern offenbar unerträglich.

Die Zukunft eines Alten Meisters

Wo genau kam Bruegel auf die Welt? Und wann? Hatte er bei seiner florierenden Produktion Gehilfen? Führte er eine Werkstatt? Wenn ja, wie viele Leute arbeiteten dort? Wo lernte er sein Handwerk – tatsächlich bei Pieter Coecke van Aelst, wie man vermutet? Bis heute sind, was Leben und Werk des Renaissancemalers betrifft, viele Fragen offen, und es existiert nicht einmal ein Gesamtverzeichnis seiner Werke. Doch das soll sich demnächst ändern. Denn hinter der Ausstellung steckt ein groß angelegtes internationales Forschungsprojekt. Nur aus diesem Grund erhielt das KHM wertvolle und fragile Leihgaben, die ansonsten nicht reisen dürfen. Naturwissenschaftliche Untersuchungen und Restaurierungen ergänzen die kunsthistorische Forschung. „Wir hoffen, dass die Ausstellung ein vorläufiger Höhepunkt ist, aus dem ein Catalogue raisonnée hervorgeht“, sagt Pénot.

Und was können Bruegels Szenerien einer Besucherin des 21. Jahrhunderts sagen, die ihre Tage nicht mit Weidenruten-Schneiden zubringt wie die ­Figuren in seinem „Düsteren Tag“, deren Sprösslinge nicht mit Stock und Reifen spielen wie in Bruegels „Kinderspielen“, sondern mit dem Smartphone? Pénot: „Bruegel hat eine entlarvende, scharfe Sicht auf die menschliche Spezies. Er hält uns einen Spiegel vor.“ In dieser Hinsicht wird sich Bruegel niemals überleben.

Nina   Schedlmayer

Nina Schedlmayer