Pigment und Physis: Die beunruhigende Malerei der Britin Jenny Saville
Der Titel der Ausstellung – „Gaze“ – steht für den Blick, der auf diese Bilder fällt und von diesen herab auf uns zurückgeworfen wird. Er könnte aber auch für das Netzgewebe stehen, das man als Verbandstoff nutzt, wie einen Schleier über die Wunden des Sichtbaren breiten kann. In den Grenzgebieten zwischen dem Drastisch-Expliziten und dem Verhüllten ist Jenny Saville, 54, geboren im englischen Cambridge, tätig. Sie denkt Körper und Farbe, Kunstgeschichte und Gegenwart ineinander. In ihren halb figurativen, halb abstrakten Gemälden und Zeichnungen finden sich Motive aus Ikonenmalerei (siehe Bild rechts: „Byzantium“, 2018) und Techniken der Alten Meister. Saville zeigt nackte Körper, Haut, Fett, Deformationen und Verletzungen. Die britischen Maler Lucian Freud und Francis Bacon sind nur zwei der offensichtlicheren Spuren, denen Saville in ihrer Arbeit folgt. Motive aus der Pathologie und der Plastischen Chirurgie sind ihr nahe. Ihr Grundimpuls ist antipatriarchal: Ihre Frauenkörper sind den (männlich definierten) Idealen fern, bilden alternative Schönheitskonzepte. Savilles Porträts geben den Blick nicht ganz frei, dick aufgetragene Ölfarbflächen fungieren als Risse, als produktive Störungen, als Erweiterungen dieser Gesichter. Zwischen Farbintervention und beschädigter Haut ist da nicht immer zweifelsfrei zu unterscheiden.
Die soeben eröffnete Saville-Ausstellung in der Pfeilerhalle der Albertina (kuratiert von Angela Stief und Melissa Lumbroso, zu sehen bis 29. Juni) ist die erste Einzelausstellung dieser Künstlerin in Österreich, was – gemessen an deren Renommee (eines ihrer Gemälde erzielte 2018 den Rekordpreis von fast elf Millionen Euro) – zumindest erstaunlich ist. In den frühen 1990er-Jahren wurde Jenny Saville als Teil der „Young British Artists“-Bewegung bekannt. Historische Rückbezüge werden ins Jetzt gezerrt, mit Ölfarbe, Kreide und Kohle fixiert. Eine gewisse Gewaltanwendung ist dabei nicht zu vermeiden.