Interview

Pop-Denker Simon Reynolds über futuristische Musik: „Alles Plastik, aber sexy!“

Der Londoner Pop-Theoretiker Simon Reynolds, 60, über Elektronikpionierinnen, Rave, Zukunftsmusik im Kinderfernsehen und das reisende Museum Kraftwerk.

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„Futuromania“ scheint die Antithese zu Ihrem Buch „Retromania“ (2011) zu sein, in Wahrheit aber ergänzen die beiden Publikationen einander.
Reynolds
Klar, es ist ein Wortspiel. Aber es gibt eine starke Beziehung zwischen den beiden Büchern. Mit Zukunftsmusik, die Blicke ins Morgen warf, wuchs ich als Autor und Fan auf. Als ich das 21. Jahrhundert erreichte, das von einem zwanghaften Recycling alter Popmodelle beherrscht wurde, deprimierte mich dies. Deshalb schrieb ich „Retromania“. Immerhin steckt die Manie in beiden Titeln: Oft ist ja eine seltsame Erregung mit der Entdeckung der Schätze der Vergangenheit verbunden. Ich war selbst Teil dieser Archivkultur, liebte es, obskure Kostbarkeiten der frühen elektronischen Musik zu entdecken. In „Futuromania“ steckt die jugendliche Begeisterung für das Neue, die ich mir, als nicht mehr ganz junger Kritiker, zu erhalten versuche. Ich war noch vor ein paar Jahren überwältigt von der Art, wie im Rap plötzlich der Auto-Tune-Effekt verwendet wurde.
Auto-Tune ist ein gutes Beispiel für die Stagnation des eben noch so Neuen. Musikalische Futurismen wurden schnell zu Retro-Phänomenen; Kraftwerk sind da wohl das herausragende Exempel.
Reynolds
Ja, die sind seit Jahrzehnten ein reisendes Museum, eine Greatest-Hits-Maschine. Jede Vergangenheit hat eine Zukunft, die aber der Zeit ihrer Entstehung verbunden bleibt. Kraftwerk haben schon 1991 mit dem Album „The Mix“ ihre eigene Vergangenheit verwaltet.
Diese Band hatte stets starke Bezüge zu futuristischer Nostalgie.
Reynolds
Ja, das gehört zu ihren Widersprüchen. Schon als sie in ihrer Frühzeit zukunftsweisende Klangwelten errichtete, bezog sie sich auf den Futurismus des frühen 20. Jahrhunderts. Alben wie „Autobahn“ (1974) und „Trans Europa Express“ (1977) liegen auch die Bildwelten des Regisseurs Fritz Lang zugrunde. Kraftwerk spielte immer mit gut etablierten Zukunftsklischees.
Auch die Neo-Noir-Klänge des seit 2005 aktiven Londoner Musikers Burial scheinen auf eine dystopische Zukunft „von einst“ anzuspielen.
Reynolds
Burial hatte von der Rave-Szene der 1990er-Jahre nur gehört, er ist zu jung, um sie wirklich erlebt zu haben. So ist sein Verhältnis zu Rave, dieser mythischen Kondensation von Gemeinschaft und Liebe, gewissermaßen elegisch. Aber Burial bezieht sich auch stark auf Gegenwärtiges, auf Obdachlosigkeit, urbane Einsamkeit und spätkapitalistische Melancholie. So ist das meist mit spannender Musik: Sie nimmt sich Dinge aus der Vergangenheit und setzt sie neu ein, mit Blick auf eine hoffnungs- oder angstvoll besetzte Zukunft, aber immer dynamisiert von der unmittelbaren Gegenwart. Wenn man später auf diese Werke zurückblickt, merkt man, dass sie einem nicht viel über die Zukunft erzählen, dafür eine Menge über den Zeitpunkt ihrer Herstellung.
Popkultur ist ohne ihr Fortschrittsversprechen kaum denkbar. Und Science-Fiction begleitete futuristische Popmusik stets. Das Elektroniklabor der BBC, der Radiophonic Workshop, wo man seit 1958 innovative Klänge erzeugte, brachte Künstlerinnen wie Delia Derbyshire oder Daphne Oram hervor. Ihre Experimente wurden zu den Soundtracks von SciFi-Serien wie „Dr. Who“.
Reynolds
Ich kannte diese Klänge schon als Kind, wusste aber nicht, wer sie hergestellt hatte. Diese Sounds waren sehr avantgardistisch, eigentlich Musique concrète, aber sie wurden im Kinderfernsehen eingesetzt, auch in Geistergeschichten. Viele spätere Bands wie The Human League und Depeche Mode hatten über die Musik dieses Workshops ihre Erstkontakte mit elektronischer Musik.
Ihr Buch dreht sich in hohem Maß um Dance und Club Music. Sie beginnen Ihr Buch mit einer Analyse des Songs „I Feel Love“, den der Produzent Giorgio Moroder 1977 gemeinsam mit Donna Summer geschrieben hat. Wieso ist der Zusammenhang zwischen futuristischer Musik und tanzbaren Rhythmen so stark?
Reynolds
Es gibt in diesem Bereich ja auch viele Ambient-Produkte, abstraktere Soundscapes und Klangskulpturen. Aber klar, Beats sind archaisch und ursprünglich. Sich im Tanz zu verlieren, darum geht es bei Techno und House, um sinnlich erfahrbare Zukunfts-Environments. Das hat auch mit dem Design früher Diskotheken zu tun, mit der einstigen Club-Kultur in Italien und Frankreich: Dort errichtete man futuristische Genuss-Fabriken, synthetische Pleasure Domes wie in dem Film „Barbarella“ (1968): alles Plastik, aber sexy.
Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.