Porträt: Das rasante Leben des Künstlers Martin Kippenberger
Das Fest in St. Georgen, einem beschaulichen Städtchen im Schwarzwald, zog sich über drei Tage. Weit über 100 Gäste waren zugegen, als der deutsche Künstler Martin Kippenberger im Februar des Jahres 1993 seinen 40. Geburtstag beging. Die Feier uferte ein wenig aus. So exzessiv bejubelte die Gefolgschaft des Partykönigs dessen Jubiläum, dass der Wirt anderntags auf den WCs Kondome fand und den von zerbrochenen Gläsern und ausgedrückten Zigarettenstummeln devastierten Parkettboden austauschen musste. Und obwohl manche Gäste von "Märtyrerprogramm" und "Selbstdarstellungswahn" sprachen, war der Gastgeber schlicht "selig". Das berichtete seine Schwester, die Journalistin Susanne Kippenberger, in ihrer 2007 erschienenen Biografie.
So wild Kippenberger zu feiern imstande war, so intensiv gab er sich seiner Kunst hin. Eine große Ausstellung im Wiener Kunstforum zeigt ab 8. September seine Werke. Längst gilt er als einer der wichtigsten deutschen Künstler seiner Generation, renommierte Häuser wie das Museum of Modern Art in New York oder die Tate Modern in London widmeten ihm Einzelausstellungen, seine Werke erzielen schwindelerregende Preise: 18 Millionen Dollar kostete eines seiner Ölgemälde 2014 bei Christie's.
Während sich seine etwas älteren Kollegen ab den 1980er-Jahren der expressiven neuen wilden Malerei verschrieben, machte Kippenberger in lässiger Ironie. Er ließ seine Assistenten Bilder malen und schmiss sie in einen Container. Er baute in einem funktionslos gewordenen Wiener U-Bahn-Schacht eine Installation mit dem schönen Titel "Tiefes Kehlchen", in Anspielung auf den Pornofilm "Deep Throat". Er kreuzigte einen (hölzernen) Frosch. Die Arbeit rief den Papst auf die Barrikaden, als sie 2008 im Bozener Museion gezeigt wurde. Damals war Kippenberger schon lange tot. Er starb 1997 mit nur 44 Jahren, Todesursache: Leberkrebs.
"Lieber reden, reden kommt gut"
Kippenberger zählt nicht nur zu den bedeutendsten, sondern auch zu den schillerndsten Figuren der deutschen - und österreichischen - Kunstszene seiner Zeit. Wer sich mit seinem Leben auseinandersetzt, stößt auf ein ebenso unüberschaubares wie illustres Repertoire an Personen, die mit ihm arbeiteten, feierten, schimpften und philosophierten. Ebenso nonchalant wie in der Kunstszene bewegte er sich zwischen Philosophen und Arbeitern, Gastronomen und reichen Witwen - etwa bei jener des verstorbenen Industriellen Dieter Grässlin, bei deren Familie er sich gar einquartierte. Sein Verhalten war, theoretisch, durchaus anpassungsfähig: "Beim Essen mit wichtigen Museumsleuten hat er am Tisch gefurzt - und sich bei Mutter Grässlin im Schwarzwald tadellos benommen", schreibt seine Schwester Susanne. Liest man ihre Biografie, so bekommt man den Eindruck, dass ihr Bruder mehr Lebenszeit in Beisln und Wirtshäusern als in Ateliers und Museen verbracht habe. Was dieser freilich als Teil seiner Arbeit betrachtete. "Die einen reden, das mach ich auch mit Vorliebe, ne, lieber als malen. Malen dauert zu lange, deswegen hab ich's auch sein lassen. Lieber reden, reden kommt gut", erklärte er 1979.
"Sein irrsinniges Bedürfnis zu kommunizieren, andere zusammenzuführen und dadurch wieder ein neues System entstehen zu lassen, durchzieht alle Orte seines Wirkens", meinte Peter Pakesch, der ihn früh in seiner wegweisenden Wiener Galerie ausstellte. Unstetig, ständig an unterschiedlichen Orten, quer durch Deutschland und Österreich vazierend, fand der "James Dean der zeitgenössischen deutschen Kunst" (Susanne Kippenberger) zuverlässig überall schnell Anschluss. Selbst in entlegenen Dörfern freundete er sich sofort mit den Einheimischen an. Und er stand stets im Mittelpunkt. Das unterstreicht eine Erzählung von Elfie Semotan; die Doyenne der österreichischen Modefotografie heiratete das Enfant terrible knapp ein Jahr vor seinem Tod, an ihrem gemeinsamen Wohnort - dem burgenländischen Jennersdorf -ist Kippenberger heute begraben. 1993 begegnete sie ihm beim Geburtstag seines engen Freundes Michel Würthle, dem Besitzer der legendären Berliner Paris Bar: "Martin liefen immer 30 Leute hinterher, fotografierten ihn und hörten ihm andächtig zu", erinnerte sich Semotan in einem Interview.
Der Kult um Kippenberger verdankte sich wohl seiner einzigartigen Fähigkeit, das Leben zur Dauerperformance zu machen. Sein Umfeld scheint ihm gleichermaßen als Atelier und als Bühne gedient zu haben. Als er in seinen frühen Zwanzigern den Punkclub SO36, dessen Mitteilhaber er war, schließen musste, führte er ein Lama ins Lokal. Anderswo soll er, ebenfalls in jungen Jahren, bei einem - offenbar eher langweiligen - Konzert auf die Bühne gesprungen sein und Boogie-Woogie mit der Sängerin getanzt haben. "Der Saal hat getobt", erinnert sich eine frühere Freundin. Nach dem Auftritt gab er, ganz Superstar, Autogramme. Bei Ausstellungsdinners hielt er stundenlange Reden, in die er immer wieder Witze, manchmal geschmack-bis pointenlos, einstreute. Auf der Prater Hauptallee in Wien inszenierte er gemeinsam mit seinem Freund, dem Maler Albert Oehlen, das "Erste Wiener Fiakerrennen", ebenso wie die berüchtigten Wodka-Wetttrinken zwischen Österreichern und Deutschen.
Camouflage im Business-Look
Trotz seines Hangs zum Exzess, der ihn schließlich das Leben kostete, trat Kippenberger häufig gentlemanlike auf, oft im Anzug. Sein Wiener Kollege Heimo Zobernig erzählte einmal, dass Kippenberger, als er ihn kennenlernte, eher "wie ein Galerist oder Geschäftsmann gewirkt" habe: "Diese Camouflage im Business-Look fand ich sehr gut." In Wahrheit, so Susanne Kippenberger, sollte es "der Widerspruch zu dem sein, was sich die Leute unter einem wilden Künstler vorstellen".
Seine Öffentlichkeit schuf sich Kippy, wie er sich auch nannte, selbst: Schon zu seinem 25. Geburtstag plakatierte er Berlin mit einem Foto zu, auf dem er selbst mit einem Clochard posierte; von seinem Kopf gingen strahlenförmig Worte wie "Angeber","Oberspanner" und "Verschwender " aus. "Kippenberger hat selbst die 'Markenware Kippenberger' früh inszeniert und in allen erdenklichen Facetten möglicher Künstlerrollen exzessiv zelebriert. Dabei ist er immer ein knallharter Stratege des Kunstbetriebs gewesen, der es nicht nur faustdick hinter den Ohren hatte, sondern auch mit allen Wassern gewaschen war", so die Autorin Anne Haun.
Dabei konnte Kippenberger einigermaßen unrund werden, wenn man ihm nicht die entsprechende Aufmerksamkeit widmete. Als Semotan ihren späteren Ehemann kennenlernte, saß sie gerade mit dem Modezampano Helmut Lang beim Essen. Die Tischgesellschaft brachte dem Designer mehr Interesse entgegen als Kippenberger, was diesem laut Semotan gehörig gegen den Strich ging. Ähnliches berichtete Pakesch über seine erste Begegnung. Er hatte ihn bei einer Ausstellung über deutsche Malerei kennengelernt, erzählte der einstige Galerist. "Kippenberger, der nicht dabei war, ließ bei der anschließenden Feier im Restaurant jeden seine Frustration darüber spüren. Das hat mich damals etwas befremdet." Es verwundert nicht, dass der begnadete Selbstdarsteller, bevor er sich für die bildende Kunst entschied, Schauspieler werden wollte. Das scheiterte allerdings: "Ich sah aus wie Helmut Berger in jungen Jahren.
Aber keiner hat mich entdeckt. Nach drei Monaten habe ich gemerkt, dass die mich als Schauspieler nicht wollten", erzählte er selbst einmal.
"Er war kein guter Mensch"
Kollegen und Gesprächspartner griff er gern frontal an, äußerte sich spitzzüngig. Über die schon damals gefeierten Maler Markus Lüpertz und Georg Baselitz ätzte er etwa: "Gute Künstler, die nett aussehen und nett malen, sind ganz einfache Menschen. Auch hier leuchtet wieder das Beispiel Lüpertz und Baselitz auf. Die haben sich alles angeeignet, was es an Informationen gibt, über Möbel, Maltechnik, Stiche-Sammeln und Auf-dem-Schlößchen-Leben, und die Frau trägt den ganzen Tag Chanel." Auch über Gerhard Richter und dessen kühle Kunst urteilte er scharf: "Der hat sich noch nie geopfert. Der kennt keinen Altar, der kennt nur Techniken." Freilich schimpfte er nicht nur über Kollegen dieses Kalibers, sondern teilte auch gegenüber anderen aus, beleidigte etwa, wie ein unglücklich Pubertierender, dicke Frauen aufgrund ihres Aussehens.
Mit seiner direkten, bisweilen auch unflätigen Art spaltete Kippenberger die Szene. Die ganz großen Erfolge stellten sich - vielleicht auch aus diesem Grund - erst nach seinem Tod ein. Der österreichische Maler Christian Ludwig Attersee erinnerte sich an ihn "als Prahlhans und Selbstdarsteller, der Freund und Feind sein konnte." Ein Nachruf auf Kippenberger endete gar mit den schlichten Worten: "Er war kein guter Mensch."
Die schillernde Biografie des Künstlers, so heißt es oft, schiebe sich vor sein Werk. Tatsächlich fließen Kunst und Leben selten derart ineinander. Kippenberger reproduzierte eigene Familien-und Kinderfotos oder an ihn gerichtete Briefe in Katalogen, übersetzte seinen Alkoholismus in torkelnde Laternen oder Werke mit Titeln wie "Alkoholfolter", stellte sich selbst, den talentierten Netzwerker, als "Spiderman" im Atelier dar, recycelte ein Foto seines blutigen, einbandagierten Kopfes nach einem nicht ganz friktionsfreien Aufeinandertreffen mit einer Punk-Gang, immer wieder in verschiedenen Formen - als Abbildung in einem Katalog oder als Gemälde.
Die Exegeten des längst zum Mythos avancierten Jahrhundertkünstlers - und davon gibt es viele - versuchen häufig krampfhaft, zwischen der Kunstfigur und der privaten Figur Kippenberger zu scheiden. Ein aussichtsloses Unterfangen.