KULT- UND RÄDELSFÜHRERIN: Swinton in der politisierten Neufassung von "Suspiria"

Porträt: Die außerirdisch begnadete Tilda Swinton

Ihr Rollenspektrum umfasst Hexen und Vampire, alte Männer und Maschinenfrauen, Mauerblümchen und Aliens. Wie die Schottin Tilda Swinton zur abenteuerlichsten Schauspielerin ihrer Generation wurde.

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Das "Bitte nicht rennen"-Schild am unteren Eingang des Wiener Gartenbaukinos wurde von der Menschenmenge, die am Montag vergangener Woche kurz vor 23 Uhr endlich eingelassen wurde, geflissentlich ignoriert. Um die besten Plätze zu ergattern, setzten sich die an der Glastür Wartenden, als ginge es um ihr Leben, im Laufschritt Richtung Kinosaal in Bewegung, in einer Art Stampede, die angesichts des Gedränges im beengten Foyer leichtes Unbehagen aufkommen ließ. Ein paar Minuten später trat jene Frau auf die Bühne, derentwegen sie alle gekommen waren. In bodenlanger, crèmefarben-violetter Robe und grünen Handschuhen stand Tilda Swinton auf der Bühne, um der Viennale-Premiere ihres jüngsten Films, der verqueren Horror-History-Mischung "Suspiria", ein paar persönliche Worte und etwas Glamour mit auf den Weg zu geben. Sie pries die immense Frauenpräsenz in "Suspiria" ("a Euro-Femme-Fest") - nicht weniger als 38 Schauspielerinnen wirken darin mit, unter anderem Dakota Johnson, Angela Winkler, Ingrid Caven, Sylvie Testud, Mia Goth und Renée Soutendijk - und die beschworene Aura der 1970er-Jahre, die Ära Fassbinders, die Regisseur Luca Guadagnino, ihr alter Freund, da gleichsam "heruntergeladen" habe.

Breites Spektrum

Ehe Swinton abtreten konnte, verriet Viennale-Chefin Eva Sangiorgi noch, dass der Filmstar an diesem Tag seinen Geburtstag feiere, was zunächst zu aufbrandendem Applaus und zu einem sarkastisch nachgeschobenen Kommentar der Geehrten ("an incredible achievement") führte. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, bis auch die unvermeidliche "Happy Birthday"-Hymne sich im Publikum ausbreitete. Tilda Swintons Abgang geriet danach wortlos und eilig - ob aus Rührung oder Peinlichkeit, war nicht mehr zu klären. Auf die Idee, ihren 58. Geburtstag in Wien zu verbringen, hatte sie nicht die Viennale gebracht, sondern der Filmemacher Wes Anderson, in dessen Werken Swinton seit einigen Jahren regelmäßig auftritt. Swinton war privat angereist, um die Ausstellungseröffnung im Kunsthistorischen Museum ("Spitzmaus Mummy in a Coffin") zu feiern, die Anderson mit seiner Frau Juman Malouf gestaltet hatte; auch andere Mitglieder des Anderson-Klans, etwa Bill Murray, Roman Coppola und Jason Schwartzman, waren gut gelaunt präsent. In puncto Exzentrik und Kunstverständnis steht Tilda Swinton dem eigensinnigen Wes Anderson nicht nach. Allein die Liste jener Regisseure, mit denen sie in den vergangenen Monaten gearbeitet hat (oder demnächst drehen wird), verdeutlicht das Spektrum ihrer kreativen Neugier: Mit "Mad Max"-Schöpfer George Miller will sie nächstes Jahr die Fantasy-Romanze "Three Thousand Years of Longing" in Angriff nehmen, mit dem thailändischen Cannes-Gewinner Apichatpong Weerasethakul dagegen ein Projekt namens "Memoria", das in Kolumbien entstehen und die Abgründe der Kolonialgeschichte reflektieren soll. Swinton ist überall zugleich: Eine neue Horror-Comedy von Jim Jarmusch, ein weiteres "Avengers"-Spektakel für das Unternehmen Marvel sowie (an der Seite ihrer 21-jährigen Tochter Honor) eine Arbeit der britischen Autorenfilmerin Joanna Hogg sind bereits in der Phase der Postproduktion.

Wer sie zum Interview trifft, erlebt in Tilda Swinton eine kluge, entwaffnend freundliche und vollkommen allürenfreie Person. Aber sie kann, wenn sie in Spiellaune ist, auch ziemlich furchterregend wirken. Das liegt unter anderem an ihrer extravaganten Physiognomie, die jenseits aller Kategorien von Schönheit und Hässlichkeit entstanden zu sein scheint: Aus dem hageren Gesicht der schmalen, hochaufgeschossenen Künstlerin blicken einen smaragdgrüne Augen an, ihr blasser Teint, den sie mit wenig Make-up ausstattet, trägt wie ihr gewagter Modestil zu der künstlichen Aura bei, die sie begleitet. Man kann in Tilda Swinton eine Androidin, ein extravagantes Fashion-Model oder auch David Bowies kleine Schwester sehen (mit ihm trat sie 2013 in dem Videoclip zu "The Stars Are Out Tonight" auf). Ihre Wirkung auf der Leinwand ist außerirdisch und außerordentlich physisch zugleich. Die Todesverachtung, mit der Swinton sich ihrer Rollen annimmt, funktioniert in den krassen Komödien, zu denen sie neigt, ebenso produktiv wie in ihren Dramen und Thrillern. Sie ist im Kino schwer zu übersehen.

Faible für Horror

Dass sie aber auch ein Faible für Horrorstoffe hat, kann sie nicht verhehlen. Hexen, Vampire und Maschinenfrauen beispielsweise verkörpert sie fast schon routiniert. In den drei Teilen des Fantasy-Blockbusters "Die Chroniken von Narnia" (2005-2010) spielte sie die elitär-arrogante Weiße Hexe, in "Doctor Strange" gab sie die magisch begabte Comics-Figur The Ancient One, die sie im kommenden "Avengers"-Abenteuer wieder aufleben lassen wird. In Jim Jarmuschs Vampirfilm "Only Lovers Left Alive" stellten Swinton und Tom Hiddleston 2013 ein bleiches, nachtseitiges Paar dar, das sich in der Hipster-Attitüde retro-romantischer Underground-Rocker nur bei Nacht durchs Leben bewegt. Das Blut, das sie benötigen, entnehmen sie nicht direkt den durch tausenderlei Schadstoffe und Negativeinflüsse kontaminierten Menschen, sondern lassen es sich lieber in hochkonzentrierter Form aus den Labors liefern, trinken es aus Likorgläsern oder lecken es tiefgefroren vom Stiel.

Swinton, geboren in London, entstammt schottischem Hochadel, einer uralten Familie, die väterlicherseits bis ins 9. Jahrhundert zurückzuverfolgen ist. Sie besuchte dasselbe Mädcheninternat wie Diana Spencer, die spätere Lady Di, studierte danach Soziologie und Politikwissenschaften in Cambridge, begann Theater zu spielen, wollte aber ganz entschieden zum Film, nicht unbedingt jedoch als Schauspielerin -bis Derek Jarman sie vor die Kamera stellte. Der Brite, mit dem sie sieben Filme drehte, ehe er 1994 starb, ist bis heute ihr Leitstern. Mit ihm reiste sie im Februar 1986 nach Berlin, um das gemeinsame Meisterwerk "Caravaggio" bei der Berlinale uraufzuführen. Sie beschloss, in der Stadt zu bleiben -und drehte noch im selben Jahr mit Christoph Schlingensief den Film "Egomania" und mit dem Avantgardisten Klaus Wyborny "Das offene Universum". Die Improvisation ist seither die Basis ihrer kreativen Existenz geblieben.

Tilda Swinton, die immer noch in den schottischen Highlands lebt, ist eine reisende Künstlerin. Nicht nur pendelt sie zwischen entlegenen Kunstprojekten, wilden Komödien und Hollywood-Mainstream, auch internationale Filmfestivals reißen sich um sie. Der Oscar, den sie 2008 für ihre Performance als unlautere Juristin in "Michael Clayton" erhielt, hat ihren Zugang zum Kino nicht verändert: Gagen seien sekundär, behauptet sie glaubhafter als andere, es gehe ihr um die Freude an der Arbeit mit Menschen, denen sie vertrauen kann. Jim Jarmusch, die Coen-Brüder, Wes Anderson und Luca Guadagnino gehören dazu; sie alle beehrt sie regelmäßig mit ihrer Leinwandpräsenz. Das warme Timbre ihrer Stimme veredelt nebenbei aber auch die Dokumentarfilme weit weniger bekannter Regiekräfte.

Mit ihrer Darstellung eines jungen Adeligen, der in Sally Potters postmodernem Historien-und Zeitreisefilm "Orlando" (1992) zu ewigem Leben und weiblicher Identität kommt, wurde Tilda Swinton 1992 berühmt. Androgyne Parts liegen ihr seit je, sie hat vielfach Männer dargestellt, auch auf der Bühne , 1989 sogar Mozart in einem Puschkin-Stück, das damals sogar am Burgtheater zu sehen war. Sie sei an der "Grenzenlosigkeit androgyner Gesten" interessiert, sagt sie. So spielt sie auch in "Suspiria" zwei weibliche Parts und eine männliche Rolle, letztere allerdings praktisch unkenntlich. Der Mut zur Hässlichkeit fehlt ihr niemals, auch wenn sie selbst sagt, dass sie immerhin "eitel genug" sei, "um nicht eitel wirken zu wollen". In dem südkoreanischen Action-Kammerspiel "Snowpiercer" trat sie im Mauerblümchenstyling auf, in Terry Gilliams Science-Fiction- Etüde "The Zero Theorem" im selben Jahr als nerdige Psychoexpertin. Swintons unbändige Lust an der Maskerade hat aus ihr eine Verwandlungskünstlerin gemacht, der im Gegenwartskino allenfalls von der Australierin Cate Blanchett Konkurrenz erwachsen kann. "Tilda verkörpert wie niemand sonst den freien Geist", schwärmt der Künstler Apichatpong Weerasethakul , mit dem sie demnächst drehen wird, auf profil-Anfrage: "Sie ist, glaube ich, perfekt für dieses Projekt in Kolumbien, wo wir beide Fremde sind. Ich stelle mir vor, dass sie wie ein Schwamm all die Erinnerungen absorbieren wird, die dort im Umlauf sind. Zugleich ist sie wie ein Spiegel, der Träume reflektieren kann." Tilda Swinton scheint tatsächlich alles zu können , vor keiner noch so abwegigen Rolle die geringste Angst zu haben. Sie spielt Femmes fatales und alte Herren, Menschenfeindinnen, Mütter und Roboter, Chefinnen, Schreckschrauben und Schandmäuler. Ihren Oscar hat sie übrigens, einem gewissen Desinteresse an Trophäen dieser Art folgend, ihrem Agenten überlassen, damit die goldfarbene Statuette - wie sie ironisch angemerkt hat - dort bleiben könne, wo sie hingehöre: in Hollywood, Los Angeles.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.