"Punisher" von Phoebe Bridgers: Apokalypse am Laufband
Nicht schon wieder. Verbindungsfehler. Die Frau am anderen Ende der Welt kann es nicht fassen. Wahnsinnszeiten! Wollen Sie die Frage bitte wiederholen? Es tue ihr wirklich leid. Die zugeschaltete Pressefrau beruhigt. Frau Bridgers wird sich im virtuellen Besprechungszimmer gleich wieder melden. Das passiere aktuell ständig.
Es ist Mitte April in diesem Jahr der großen Unsicherheiten. Die Musikerin Phoebe Bridgers hat sich in ihrem Haus in Silverlake, Los Angeles verschanzt und führt Telefoninterviews am laufenden Band – und das sprichwörtlich. Für die Corona-bedingte Selbstisolation hat sich die 25-Jährige ein Laufband in das Wohnzimmer gestellt, auch die Interview-Gespräche führt sie im Gehen. Wie soll man in diesen Zeiten möglichst zu Hause bleiben, wenn man eigentlich das wichtige zweite Album zu promoten hätte, auf Welttournee gehen wollte?
Es gibt Momente, sagt Bridgers, als die Telefonverbindung wieder funktioniert, da fühlt es sich an, als würde sie gleich durchdrehen. Dann gäbe es zumindest ein Ziel: einfach zu funktionieren. Immerhin habe sie es geschafft, meint sie lachend, einen neuen Song in der Selbstisolation zu schreiben; zudem spiele sie Wohnzimmerkonzerte auf Instagram, die Single „Kyoto“, die von ihrer schwierigen Vater-Beziehung handelt, hat sie für die Late-Night-Show des TV-Talkers Jimmy Kimmel live aus ihrem Badezimmer performt – wegen der Akustik, versteht sich. Das dazugehörige Musikvideo wollte sie eigentlich in Japan aufnehmen – aus der geplanten Fernreise wurde dank Pandemie ein Studiobesuch in ihrer Heimatstadt Los Angeles.
Jetzt also „Punisher“: Ihr zweites Soloalbum führt weiter, was mit ihrem Debüt „Stranger in the Alps“ (2017) so eindrucksvoll begonnen hat. Die Themen ihrer eindringlichen Folk-Songs kreisen um die großen und kleinen Unzulänglichkeiten des Lebens; es geht um Liebe und Tod, um Jugenderinnerungen und aufdringliche Fans („Punisher“), um verscharrte Skinheads im Garten („Garden Song“) und die große persönliche Apokalypse („I Know the End“). Die Singer-Songwriterin, die in den letzten Jahren unzählige Tage und Nächte auf Tour verbracht hat, schreibt Kompositionen, die stets zwischen Introvertiertheit und Dringlichkeit changieren. Ihre Lieder sind ruhige, meist auf Gitarren, verhallten Synthiesounds und eingestreuten Streichern basierende Miniaturen, die nur über die Stränge schlagen, wenn es wirklich sein muss. Neue Stücke schreibe sie stets als Balladen, erzählt sie im Gespräch, erst später beginne sie zu experimentieren, lasse sich überraschen, wohin sie die Reise führe. Als sie 2017 den Song „Funeral“ veröffentlichte, in dem sie den Suizid eines guten Freundes thematisiert, twitterte der Musiker John Mayer: „This is the arrival of a giant“, die Ankunft einer Gigantin.
Ihre eigene Popstarwerdung ist für Bridgers allerdings immer noch schwer zu fassen, betont sie im Interview, sogar richtig unheimlich. So kommentierte sie ein überlebensgroßes Werbesujet für ihr neues Album am New Yorker Times Square auf Instagram lapidar mit einem Ausdruck digitaler Heiterkeit („lol“). „Ich versuche das alles nicht zu ernst zu nehmen und mich nicht beeinflussen zu lassen“, sagt sie, und da helfe es eben, sich über den eigenen Erfolg nicht nur zu wundern, sondern durchaus auch lustig zu machen. Für ihr zweites Album hat sich die große Zweiflerin folgerichtig genügend Zeit gelassen, über ein Jahr lang hat sie daran geschrieben und getextet, wollte nichts überstürzen. Hätte sie die elf Songs früher veröffentlicht, meint sie heute, „würden sie wohl ziemlich beschissen klingen“.
Um sich mehr Zeit für das Schreiben ihres Albums zu verschaffen, hat sie gleich zwei Nebenprojekte gestartet; mit den Musikerinnen Julien Baker und Lucy Dacus gründete sie die Band boygenius (2018 erschien eine gleichnamige EP); ein Jahr später veröffentlichte sie mit Conor Oberst, als Kopf der Indievordenker Bright Eyes einer ihrer Jugendhelden, das Projekt Better Oblivion Community Center. Die Live-Erfahrungen der letzten Jahre habe sie dringend gebraucht, sagt sie heute, auch die vielen Proben und die unterschiedlichen Einflüsse ihrer Mitmusiker. Außerdem sei sie heute mehr von ihren eigenen Fähigkeiten überzeugt – was auch das Abschließen eines Songs leichter mache.
Anfang 2019 wurde Bridgers Teil der #metoo-Bewegung. Gemeinsam mit anderen Frauen klagte sie in der „New York Times“ den Musiker Ryan Adams an, mit dem sie als 20-Jährige eine kurze Beziehung hatte. Adams soll über Jahre Frauen psychisch und emotional misshandelt und sexuell bedrängt haben. Musikerinnen, die seine Avancen ablehnten, soll der heute 45-Jährige zudem unter Druck gesetzt haben. Bridgers selbst verarbeitete die Erfahrungen bereits 2017 in dem Song „Motion Sickness“.
Wer also ist diese kaum zu fassende Singer-Songwriterin mit den silberblonden Haaren, die ihrer eigenen Strahlkraft nicht vertrauen möchte, die in den sozialen Medien unter dem Pseudonym @_fake_nudes_ auftritt – und bereits nach ihrem ersten Album mit Bob Dylan und Kurt Cobain verglichen wurde? Meist, sagt sie im profil-Gespräch, fühle es sich ohnehin so an, als würde sie das Leben einer anderen Person führen. Wer sie wirklich sei? Das versuche sie selbst noch rauszufinden, sie sei noch nicht so weit. Immerhin habe es für sie neben der Musik nie einen Plan B gegeben, sagt sie, was sie heute als großes Privileg ansehe.
Auf „Punisher“ wollte sie von ihrem Alltag und ihren Routinen vor dem Corona-Lockdown erzählen, sagt sie; wie das ist, wenn man reist, Konzerte spielt, im Tourbus abhängt oder allein zu Hause rumsitzt und die Wäsche macht. Ein grundlegendes Thema gebe es auf ihrem zweiten Album nicht, obwohl all ihre Songs einen gemeinsamen Nenner haben. Sie schreibe keine Liebeslieder, sondern erzähle lieber davon, welchen Einfluss die Liebe auf unser Leben, unsere Verhalten und unsere Beziehungen haben kann. Diese Songs, sagt sie noch, „das bin einfach ich.“ Mehr gebe es da eigentlich nicht zu sagen.
Phoebe Bridgers: Punisher (Dead Oceans)