Puppenspieler Nikolaus Habjan: Zeitgeisterstunde
Die Klappmaulpuppe mit kantigem Gesicht lehnt auf der Bühne des Wiener Schubert Theaters über einen Tisch gebeugt. Leben kommt in die Figur, sobald der Puppenzauberer Nikolaus Habjan, 34, die Bühne betritt. "F. Zawrel - erbbiologisch und sozial minderwertig", die Geschichte des Friedrich Zawrel als Figurentheater, ist in der Währinger Hinterhofbühne wieder zu sehen. Vor ziemlich genau zehn Jahren erlebte das Stück hier seine Uraufführung. Die Stimmung an diesem Dienstagabend ist aufgeräumt, fast feierlich. Bravos am Ende.
Nach Zählung durch Habjan und Regisseur und Schubert-Theater-Leiter Simon Meusburger, 48, erlebte "F. Zawrel" bislang 400 Gastspiele im In- und Ausland, rund 100.000 Menschen haben das Stück gesehen. "Es ist noch immer einer der konkretesten Zugriffe auf jene Zeit", wird Habjan später sagen. "Friedrich selbst ist nicht zerbrochen, weil er unaufhörlich darüber sprach."
Viel wurde über Friedrich Zawrel (1929-2015) geschrieben, viel zu wenige Straßen, Plätze und Schulen wurden bis heute nach ihm benannt. Um zu verstehen, welche Relevanz die beiden Geschichtsstunden auf der Bühne noch immer haben, muss man ein paar Jahrzehnte zurückschauen. Es gibt nicht viele Menschen, die mit einer Episode der Historie derart verwoben sind wie Zawrel.
Aufgewachsen in Kinderheimen und Pflegefamilien, wurde er 1941 in die Wiener Jugendfürsorgeanstalt "Am Spiegelgrund" eingewiesen, ein Zentrum der NS-Tötungsmedizin, in dem von 1940 bis 1945 an die 800 Kinder ermordet wurden. Hier traf Zawrel zum ersten Mal auf den NS- Arzt Heinrich Gross. In den 1970er-Jahren, nachdem Zawrel wegen kleinerer Eigentumsdelikte angeklagt worden war, begegnete er Gross erneut, der nach 1945 Karriere als Psychiater und Gerichtsgutachter gemacht hatte. Zawrel wurde aufgrund von Gross' Gutachten, der dafür Teile der "Spiegelgrund"-Akte seines ehemaligen Opfers verwendet hatte, verurteilt und inhaftiert. Erst 1999 wurde gegen Gross durch Zawrels Aussagen (und mithilfe des Arztes Werner Vogt) Anklage wegen Mitwirkung an der NS-Euthanasie erhoben - zu einem Urteil kam es nie. Gross starb 2005 als freier Mann.
"F. Zawrel - erbbiologisch und sozial minderwertig" ist ein Bühnenliebesdienst, dem das Publikum nach wie vor mit stummem Erschrecken folgt. Alterslose Wahrheiten sind in Zawrels überlieferten Sätzen enthalten, die Habjan auf der Bühne rezitiert: Wider das Verdrängen und Verschweigen! Ohne Empathie ist alles nichts! Erhebe dich nie über andere Menschen!
Habjan und Meusburger kapern Zawrels Leidensgeschichte nicht. Sie überlassen ihm die Bühne, bis heute sind beide gefangen von diesen Geschichten über das Leben und Leiden, von denen eine so geht: "Ich habe alles über mich ergehen lassen", erinnerte sich Zawrel 2011: "Die haben brüllen können, die haben schreien können. , Jud' haben sie mich geschimpft. ,Vielleicht darf der Jud' nicht in die Hitlerjugend.' Der andere hat wieder geschrien: ,Na ja, ein Jud' kann er nicht sein, weil sonst wäre er schon in einem Konzentrationslager.' Und nachher, nach dem Krieg, ist mir das immer eingefallen: ,Ja wir haben es nicht gewusst, ja wir haben es nicht gesehen.'"
Am Ende des Abends im Schubert Theater ist es gerade so, als wäre alles gerade erst geschehen, als liefen die Szenen am historischen "Spiegelgrund" als Zeitgeisterstunde ab. Habjan will seine Hommage, die bald ans Wiener Theater in der Josefstadt wechseln soll, ohne zeitliches Limit fortsetzen. Puppen altern kaum. Zawrels Geschichte ohnehin nicht.