Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj meinte unlängst, Wladimir Putin sei „ein Drache, der fressen muss“. Sehen Sie das auch so?
Tolokonnikova
Ja, aber irgendwann wird es glücklicherweise mit ihm vorbei sein. Die Analogie ist schon korrekt, Putin verkörpert das Böse schlechthin. Für mich ist er das schon mein ganzes Erwachsenenleben lang, aber wirklich klar wurde es der Welt erst mit dem blutigen Angriffskrieg, den er gegen die Ukraine zu führen beschlossen hat. Leider ist nicht er allein das Problem, denn er steht für die Gedanken und Sehnsüchte von Millionen Menschen weltweit. Auch hier in Österreich hat er Unterstützer. Putin ist ein Magnet für Arschlöcher, ein Angebot für abscheuliche Menschen, die ihre Existenzen nur dem Zweck widmen, andere leiden zu lassen. Leider sind unter den Arschlöchern, die Putin adorieren, auch sehr mächtige – etwa jene, die in der chinesischen Regierung sitzen.
Tatsächlich verfügt Putin über Handlanger, die Staatsfeindinnen wie Sie auch im Ausland attackieren könnten. Wie gefährdet fühlen Sie sich? Wie sichern Sie sich ab?
Tolokonnikova
Ich bin da eher leichtsinnig. Wenn man mich wirklich finden will, wird das auch gelingen. Ich verstecke mich nicht. Man sollte vor allem an jene denken, die derzeit als politische Häftlinge in Russlands Kerkern sitzen. Wir haben gesehen, was mit Nawalny geschah. Er wurde, trotz seiner Sichtbarkeit als einer der prominentesten politischen Gefangenen der Welt, von Putin ermordet.
Immerhin geben Sie nicht bekannt, wo Sie leben und arbeiten.
Tolokonnikova
Vor allem aus künstlerischen Gründen. Seit ich Russland verlassen musste, spielt es keine Rolle mehr, wo ich mich physisch aufhalte.
Nawalny beschloss, nach dem Giftanschlag auf ihn aus dem Berliner Exil, wo man ihn medizinisch behandelt hatte, nach Russland zurückzukehren – und alle Risiken in Kauf zu nehmen. Rechnete er nicht damit, dass man ihn umbringen könnte?
Tolokonnikova
Doch, sicher. Damit muss man, wenn man nicht sehr naiv oder dumm ist, leider immer rechnen. Nawalny wusste, was er riskierte. Aber er wollte als Politiker Russland verändern, und er wusste, dass er die Menschen nur dann zu öffentlichem Protest auffordern konnte, wenn er sich selbst nicht in Sicherheit gebracht hatte.
Haben Sie je erwogen, zurück nach Russland zu gehen?
Tolokonnikova
Nein. Man würde mich sofort ins Gefängnis werfen, dann wäre ich nutzlos.
In Ihrem aktivistischen Handbuch „Read & Riot“ schrieben Sie: „Versucht, all die Scheiße in Schokolade zu verwandeln!“ Gilt das auch für Putin?
Tolokonnikova
Nein, ihn würde ich lieber in Asche verwandeln.
Sehen Sie irgendeine Friedensperspektive in der Ukraine? Ist es produktiv, wenn der Westen Waffen dorthin liefert?
Tolokonnikova
Natürlich. Das sollte in noch viel höherem Maße als bisher geschehen. Nur so kann der Krieg enden. Putin geht es besser denn je, er gedeiht mit diesem Krieg. Denn die Ukraine wird nicht genug unterstützt. Man wollte dort friedlich und in moderatem Wohlstand leben. Für diese Idee sollte man kämpfen. Der Mangel an Unterstützung aus den USA etwa erlaubt Putin jedoch, sich immer mehr Territorien anzueignen und zivile Bevölkerung zu töten.
In den Nachrichten hört man von Putins Engpässen, von kaum noch rekrutierbaren Soldaten und dem Fehlen von Panzern.
Tolokonnikova
Panzer kann man produzieren. Man sollte nicht damit rechnen, dass Putin demnächst keine Ressourcen mehr haben werde. Er sitzt auf Unmengen von Öl und Gas, es geht ihm hervorragend, und er hat nicht vor, mit diesen Reichtümern die Lebensbedingungen seines Volkes zu verbessern. Lieber erhöht er, um Geld für seinen Krieg zu gewinnen, wieder die Steuern. Und baut sich selbst Paläste und Yachten.
Hat sich das Leben in Russland seit dem Krieg dramatisch verändert?
Tolokonnikova
Natürlich. Zahllose Menschen mussten fliehen, und die meisten jener, die geblieben und gegen Putin sind, gingen in die innere Emigration. Einige lehnen sich noch gegen das Regime auf, aber diese Kämpfe sind in der Regel sehr kurz. Man sagt ein unliebsames Wort und landet hinter Gittern.
Wie brachten Sie den Mut auf, schon als Teenager gegen Putin anzurennen? Und als Gründerin der Gruppe Pussy Riot am Vormittag des 21. Februar 2012, als gerade 22-Jährige, Ihr berühmt gewordenes „Punk-Gebet“ in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale aufzuführen? Waren Ihnen Ihr Leben und Ihre Freiheit nicht so wichtig wie die Protestbotschaft, die Sie an die Welt sandten?
Tolokonnikova
Doch, gerade weil unsere Leben und unsere Freiheit so wichtig waren und sind, mussten wir diese Botschaft aussenden.
Aber Sie gefährdeten sich selbst damit massiv. Schließlich mussten Sie fast zwei Jahre im Gefängnis verbringen. Ein hoher Preis, den Sie für Ihre Kunst zu zahlen hatten.
Tolokonnikova
Daran dachte ich im Vorfeld nicht wirklich. Ich habe das Glück, einer Generation anzugehören, die mit wenig Angst aufwachsen konnte. Ich wurde 1989 geboren, zwei Tage vor dem Fall der Berliner Mauer. Ich wurde mit dem Gefühl groß, dass uns endlose Möglichkeiten offen standen, dass wir die Welt so gestalten könnten, wie es uns passt. Und ich träumte davon, dass Russland ein Teil Europas werden könnte. Ich war acht, als ich mein erstes Visum erhielt, um nach Europa zu reisen. Ich weiß noch, wie ich es hasste, als Russin um Reiseerlaubnis bitten zu müssen, als wäre ich eine Weltbürgerin zweiter Klasse. So begann ich schon als Kind davon zu träumen, in einem Russland zu leben, wo niemand mehr Visa braucht, um sich international zu bewegen. Und dann ruinierte Putin alles. Natürlich, ich war in den 1990er-Jahren noch ein Baby, aber auch Babys fühlen schon genau, was richtig ist und was falsch. Ich liebte die russische Popmusik, die sehr bunt, queer und frei sein konnte. Als Putin Ende der 1990er-Jahre das Präsidentenamt antrat, machte er diese Träume und Freiheiten zunichte. Es war klar, dass man diesen Mann bekämpfen musste, und zunächst schien es auch so, als würde man ihn politisch stoppen können.
Inzwischen hasst Putin alles Westliche. Ihren Gothic-Stil würde er vermutlich besonders hassen.
Tolokonnikova
Er trägt ja selbst westliche Kleidung und nicht russische Kostüme aus dem 16. Jahrhundert. Er hasst vor allem die europäische Demokratie, nicht alles Europäische. Seine Elite liebt den europäischen Lebensstil, nur die Demokratie würden sie gerne zerstören. Putin sieht sich selbst und Länder wie China und Singapur als Beweise dafür an, dass der Kapitalismus und ein freier Markt nicht Hand in Hand mit der Demokratie gehen.
Europas Rechte pflichtet ihm in weiten Teilen bei.
Tolokonnikova
Ja, das ist katastrophal. Aber Putin will neben der Demokratie auch die Menschenrechte zerstören, er macht sich darüber unentwegt lustig. Wie auch über die Fehlleistungen der europäischen Demokratie, als wären diese ein Grund dafür, das ganze System, das ein Ideal und also nicht perfekt ist, niederzureißen. Denn was haben wir sonst?
Sie leben inzwischen in den USA?
Tolokonnikova
Das kann ich weder bestätigen noch leugnen. Ich betrachte mich als geografisch anonym.
Wie hat sich das Projekt Pussy Riot 2011 konkretisiert? Waren es tatsächlich, wie mancherorts zu lesen ist, 12 Performerinnen sowie 12 Menschen, die sich um Technik und Organisation kümmerten?
Tolokonnikova
Die Zahl 12 ist eine mythologische, die wir damals in die Welt setzten, um das Unternehmen gewichtiger erscheinen zu lassen. Anfangs waren es eigentlich nur meine Freundin Kat (Jekaterina Samuzewitsch, Anm.) und ich; wir hatten gerade Woina, unser erstes Kunstkollektiv, wegen ideologischer und persönlicher Differenzen hinter uns gelassen. Darin gab es stark frauenfeindliche Kräfte, und wir wollten uns auf feministische Kunst konzentrieren. Einige, die uns halfen, war zunächst sehr skeptisch; sie meinten, in Russland interessierten sich viel zu wenige Menschen dafür. Pussy Riot war 2011 nur eine Idee; unsere Vorgaben, die wir all jenen, die uns beitreten wollten, mitgaben, waren ganz simpel: Tragt eine Maske, ein Kleid und eine bunte Strumpfhose, und damit absolviert ihr die Aktion! Zunächst mussten diese Performances von uns angeleitet werden, aber bald verselbständigte sich Pussy Riot.
Es brauchte Sie nicht mehr?
Tolokonnikova
Ja, es war interessant, dass Pussy Riot, gerade als wir im Gefängnis saßen, weiter wuchs und umso lauter wurde. Ich habe inzwischen selbst keine Ahnung mehr, aus wie vielen Menschen die Gruppe heute besteht. Wir werden allein hier in Linz für eine Performance rund 20 lokale Teilnehmerinnen auftreten lassen.
Die Wirkung von Pussy Riot lag stets auch in der ikonischen Qualität der Gruppe, die sich von Anfang an mit bunten Sturmhauben und Kleidern stilisierte. Wer erfand das?
Tolokonnikova
Kat und ich. Wir diskutierten die Masken lange, wir wollten ja auch freundlich erscheinen, nicht wie verdammte Terroristinnen auftreten.
Haben Ihre Großmütter diese Skimützen gestrickt?
Tolokonnikova
Nein, wir hätten uns nicht einmal die Wolle leisten können. Unser Budget lag im Minusbereich. Also klauten wir ein paar Beanies aus dem Supermarkt, schnitten Löcher rein, fertig waren unsere Masken. Die Kleider liehen wir uns von Freundinnen aus. Einige stahlen wir auch.
Sie dokumentierten alle Ihre Aktionen penibel. War Social Media bei Pussy Riot von Anfang an mitgedacht?
Tolokonnikova
Dokumentation ist in der Performancekunst entscheidend.
Und Ihre Aktionen dauerten in der Regel kaum länger als eine Minute, oder?
Tolokonnikova
Ja, es ging stets sehr schnell. Man hat keine Zeit, also braucht man sehr genaue Vorbereitung: Wir arbeiten oft einen Monat daran, eine Performance auf die Bühne zu stellen, die dann vielleicht nur 30 Sekunden dauerte. Aber das war es wert, denn auch kurze Aktionen vergrößern die Reichweite deiner Stimme enorm. Die Dokumentation aber entscheidet über den Erfolg einer Aktion: Gute Fotos inspirieren die Welt, mit schlechten Fotos verendet deine Performance im Mülleimer der Kunstgeschichte. Also arbeiteten wir mit professionellen Fotografen zusammen, viele von ihnen hatten Erfahrung als Kriegsreporter. Sie wussten, wie man etwas eiligst dokumentierte und sich dann blitzschnell aus dem Staub machte.
Russische Kirchen sind doch nicht rund um die Uhr polizeilich bewacht, oder? Wieso befanden sich bei Ihrer legendären Punk-Gebetsaktion in Moskau so viele Uniformierte im Raum, die Sie binnen Sekunden von der Bühne zu zerren begannen?
Tolokonnikova
Gute Frage. Ich habe den Verdacht, dass man über unsere Pläne Bescheid wusste. Aber ich kann das nicht beweisen. Wenn die Staatsarchive einmal geöffnet werden sollten, werden wir vielleicht erfahren, ob und wie der Inlandsgeheimdienst FSB uns ausspioniert hat. Putin und sein Umfeld hatten uns wohl schon auf dem Radar, denn er war über unsere Aktion, die wir im Monat davor unter dem Titel „Putin Has Pissed Himself“ aufgeführt hatten, sehr aufgebracht. Putin hat unseren Sinn für Humor nie geteilt.
Hat Putin überhaupt Humor?
Tolokonnikova
Sicher, seinen eigenen, sexistischen Witz. Er scherzt doch die ganze Zeit herum. Aber wir existieren humortechnisch in Paralleluniversen.
Warum verurteilte man Sie nicht schon für die Aktion davor?
Tolokonnikova
Weil es viel einfacher war, uns aus „religiösen Gründen“ dranzukriegen. So konnten sie vom Politischen ablenken, uns offiziell für ganz andere Delikte inhaftieren. Denn Putin hat lange versucht, die „politischen“ Häftlinge gering zu halten.
Denken Sie, dass in Russland eine Mehrheit Putin unterstützt?
Tolokonnikova
Woher sollte man das wissen? Das wird nirgendwo erhoben, und die meisten Leute hätten Angst zuzugeben, dass sie Putin ablehnen. Aber Aktivistinnen wie die junge, inzwischen im Exil lebende Antikriegs-Sängerin Monetotschka ist gerade sehr populär in Russland.
Mit welchen Mitteln werden dissidente Kunstschaffende in Russland eingeschüchtert? Ist das berechenbar?
Tolokonnikova
Leider nicht. Oppositionelle, insbesondere Künstlerinnen und Künstler lebten in den späten Sowjetzeiten sicherer als heute. Die Moskauer Konzeptualisten um Ilja Kabakow, Dmitri Prigow und Wladimir Sorokin arbeiteten im Underground, aber relativ gefahrlos. So ist es längst nicht mehr. Inzwischen kann man in Russland nicht einmal mehr kleine Antikriegs-Sticker an eine Supermarktwand kleben, ohne jahrelange Gefängnisstrafen zu riskieren.
Wie verlief Ihre 21-monatige Haft? Hatten Sie Kontakt zur Außenwelt?
Tolokonnikova
Wir erlebten unglaublich viel Solidarität weltweit. Unser Fall erschloss sich über die Kunst und ohne große Worte: Man sah diese Bilder protestierender junger Frauen mit Sturmhauben und Gitarren – und man begriff die Ideen: Antityrannei, Feminismus und LGBTQ-Solidarität. Das war leicht zu verstehen, denn es war universell.
Aber die Solidarität half Ihnen nicht, dieser langen Haft zu entgehen.
Tolokonnikova
Sie half immerhin atmosphärisch. Ich meine, sogar Madonna solidarisierte sich mit uns, indem sie mit Sturmhaube auftrat. Wir erfuhren das von unseren Anwälten vor Gericht, natürlich hilft einem derart prominente Unterstützung. Du begreifst dann, dass dein Opfer nicht vergeblich sein wird. Als wir dann aber verurteilt waren, wurde es härter; man verlegte mich in Arbeitslager, erst nach Mordwinien, dann nach Sibirien; in diesen Lagern sind die Haftbedingungen wirklich schlimm. Ich fiel in eine tiefe Depression, verlor mich selbst. Dort gab es auch kaum Verbindung zur Außenwelt, das ist deren Ziel: Sie bringen dich ins Nirgendwo, und selbst deine Anwälte können dich dort nur noch alle paar Monate besuchen. Man ist völlig allein. Ich durfte ab und zu mit meiner Familie telefonieren, aber auch diese Gespräche wurden überwacht und abgehört.
Wurden Sie im Gefängnis als Staatsfeindin betrachtet?
Tolokonnikova
Ja, die Wärter behandelten uns deshalb oft schlechter als andere Insassinnen. Andererseits hatten wir als politische Gefangene auch bestimmte Privilegien, bekamen moralische Unterstützung von außen, Briefe und Essen geschickt.
Hätte man Sie noch länger im Gefängnis behalten, wenn Ihr Fall international nicht derart hohe Wellen geschlagen hätte?
Tolokonnikova
Vielleicht. Unsere Amnestie ersparte uns de facto nur wenige Monate Haft. Es war wie ein Witz, denn die letzten Wochen und Monate im Gefängnis sind nicht mehr schlimm. Man ist an alles gewöhnt. Masha (das ebenfalls inhaftierte Pussy-Riot-Mitglied Marija Aljochina, Anm) erwog sogar, sich nicht begnadigen zu lassen, die Almosen des Regimes nicht anzunehmen. Wir hatten damals ein – gemessen an unseren „Vergehen“ – durchschnittliches Haftausmaß. Inzwischen verhängt man gegen Oppositionelle ungleich höhere Strafen. 20 oder 25 Jahre für öffentliche Proteste sind keine Seltenheit mehr.
Als Sie aus dem Gefängnis kamen, blieben Sie in Russland. Sie wurden 2014 attackiert und verletzt, auch erneut verhaftet.
Tolokonnikova
Ja, ich lebte bis 2020 in Moskau.
Wie gestaltete sich Ihr Leben nach der Haft in Russland?
Tolokonnikova
Ich musste mich künstlerisch neu erfinden. Mein angestammtes Genre, an dem ich seit meiner Teenagerzeit arbeitete, war die politische Performance. Nachdem wir in Sotschi angegriffen und wieder verhaftet worden waren, wurde uns klar, dass wir nicht mehr weitermachen konnten wie zuvor. Polizei und Geheimdienst überwachten jeden unserer Schritte. In Sotschi verhaftete man uns bis zu dreimal am Tag, dichtete uns Delikte an.
Sie wurden unablässig polizeilich belästigt.
Tolokonnikova
Und mit physischer Gewalt bedrängt. Man verprügelte uns etliche Male, es gab Schläge ins Gesicht. Wir wurden auch in aller Öffentlichkeit angegriffen, gepeitscht und kriegten Pfefferspray in die Augen.
Das alles verübten Handlanger des Putin-Regimes. Wie aber reagierte die Bevölkerung auf Sie? War da auch Hass spürbar?
Tolokonnikova
Das russische Volk ist politisch und künstlerisch völlig desinteressiert, das ist das eigentliche Problem. Nur deshalb konnte es in den vergangenen 100 Jahren von den jeweiligen Machthabern so vielfach über den Tisch gezogen werden.
Putin kümmert sich um die Politik, das Volk soll sich anderweitig beschäftigen?
Tolokonnikova
Das ist die Haltung, ja. Viele Menschen sehen ihn als notwendiges Übel. Ich glaube nicht, dass er von vielen geliebt wird. Die meisten meiner Landsleute meinen, politisch ohnehin nichts zu sagen zu haben. Aus gutem Grund.
Sie brachten Ihr „Punk-Gebet“ 2012 nicht zufällig in einer orthodoxen Kathedrale zur Aufführung. Damit übten Sie heftige Kritik an der Regierungstreue der Kirche. Welches Verhältnis zur Religion haben Sie? Sehen Sie sich als Atheistin?
Tolokonnikova
Nein, das Wort, das mich diesbezüglich charakterisieren würde, ist noch nicht erfunden. Ich neige durchaus zum Metaphysischen, lehne organisierte Religion jedoch ab. Ich mag aber die Ästhetik, den Look und den Klang der orthodoxen Kirche. Auch bestimmte buddhistische Weisheiten berühren mich sehr. Ich wähle also Dinge aus ganz verschiedenen Traditionen für mich aus, stelle sie zusammen. Im 21. Jahrhundert sollte es möglich sein, dass wir uns selbst auszusuchen, was uns am besten passt. Die blinde Gefolgschaft hat ausgedient.