Meisterprovokateure. Die Band Rammstein liebt das Spiel mit dem Feuer.

Neues Rammstein-Album: Zündet nicht

Nach zehn Jahren Pause hat die Berliner Rockband Rammstein ein neues Album veröffentlicht, das vor allem eine Frage aufwirft: Kommt danach noch was?

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35 Sekunden genügten, um Rammstein Ende März wieder zum Gesprächsthema zu machen: Ein auf YouTube veröffentlichter Videoclip zeigt die Musiker der Berliner Bombast-Rockband als KZ-Häftlinge vor einem Hinrichtungskommando, die Schlinge bereits um den Hals gelegt – Judenstern inklusive. Am Ende der kurzen Videobotschaft wird der Schriftzug „Deutschland“ in frakturähnlicher Schrift eingeblendet. Der Holocaust als Marketing-Brandbeschleuniger, als PR-Gag? Der Zentralrat der Juden in Deutschland zeigte sich in einer ersten Reaktion besorgt, der Antisemitismus-beauftragte der Bundesregierung meldete sich zu Wort, Boulevard und Feuilleton sprangen bereitwillig auf. Die Empörung war kalkuliert – und ist bei Rammstein seit jeher Teil des Bandkonzepts. Dass in dem kurzen Ausschnitt gar keine neue Musik zu hören war, fiel in der Aufregung nicht weiter auf.

Zwei Tage später folgte die Auflösung in Form eines neunminütigen Big-Budget-Videos. Das von Regisseur Eric Remberg alias Specter Berlin produzierte Bilderfeuerwerk, mehr Kurzfilm als Musikclip, ist ein Streifzug durch die dunkle Gewaltgeschichte Deutschlands. Es zeigt kriegerische Germanen, erzählt von Kreuzzügen, Nationalsozialismus, Bücherverbrennungen und Stasi-Schergen – und besetzt die Rolle der Germania mit der schwarzen Schauspielerin Ruby Commey. „Deutschland, meine Liebe kann ich dir nicht geben“, röhrt Frontmann Till Lindemann, 56, in dem Song „Deutschland“ mit betont theatralischem Bariton.

In der vorab veröffentlichten Single zum ersten Rammstein-Studioalbum seit zehn Jahren versuchen die Meisterprovokateure Christoph Schneider (Schlagzeug), Flake Lorenz (Keyboard), Oliver Riedel (Bass), Paul Landers (Gitarre), Richard Kruspe (Gitarre) und Sänger Lindemann, die ambivalente Beziehung zum Heimatland mit der gewohnten Brachial-Rhetorik aufzuarbeiten: „Deutschland, ich will dich nie verlassen, man kann dich lieben und will dich hassen“, heißt es darin weiter. Die sechs Musiker, allesamt aufgewachsen und sozialisiert in der ehemaligen DDR, rechnen mit ihrer Heimat – und dem Nationalsozialismus – ab. Der Skandal hat sich ausgezahlt: Auf YouTube wurde das Video bereits über 50 Millionen Mal angeklickt.

Provokations-Millionenseller

Die Marketing-Rechnung der Inszenierungsmaschine Rammstein ist einfach zu durchschauen: kein neues Album ohne Eklat. Das Wechselspiel aus Tabubruch und ungeteilter Aufmerksamkeit hat bei der 1994 in Berlin gegründeten, noch immer in Originalbesetzung existierenden Band Tradition: Zu ihrer Coverversion des Depeche-Mode-Klassikers „Stripped“ erschien 1998 ein Musikvideo mit Ausschnitten aus Leni Riefenstahls berüchtigtem NS-Propagandafilm über die Olympischen Spiele 1936, das Cover ihres Albums „Mutter“ (2001) ziert das Foto eines toten Babyfötus, der Sex-Clip zur Single „Pussy“ (2009) wurde nicht ohne Grund auf einer einschlägigen Pornowebsite veröffentlicht. Das dazugehörige Studioalbum „Liebe ist für alle da“ landete zeitweise sogar auf dem Index – Begründung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien: Das Lied „Ich tu dir weh“ und eine Abbildung im Booklet seien „verrohend“ und „sittenwidrig“. Das Verbot wurde später wegen Rechtswidrigkeit wieder aufgehoben.

Der Song „Deutschland“ bildet auch den Einstieg in das vergangenen Freitag erschienene, siebente Studioalbum der Band. Zehn Jahre hat man sich für die elf neuen Lieder Zeit gelassen, und man wird den Eindruck nicht los, diese Rückkehr könnte auch ein Anfang vom Ende sein. Das Album zündet nämlich nicht so, wie es das schlichte Cover-Artwork mit Zündholz vor weißem Hintergrund suggerieren will – was hauptsächlich daran liegt, dass einem Großteil der neuen Songs die Dringlichkeit fehlt. Themen wie Einsamkeit und Isolation („Puppe“), Missbrauch („Hallomann“ und „Zeig dich“) und schwierige Beziehungen („Was ich liebe“) wurden auf früheren Rammstein-Alben schon reflektierter behandelt. Musikalisch schlägt man zwar eine erfrischend elektronische Note an, reduziert den schnöden Schenkelklopfer-Metal – mit wenigen Ausnahmen („Tattoo“) – und lässt sich lieber von Techno und Kraftwerk-Sounds inspirieren. Zu hören ist das in der gelungenen Liebeserklärung an das Medium Radio, in der die Ost-Band von politischer Zensur und dem Heranwachsen in der DDR erzählt: „So höre ich, was ich nicht seh / Stille heimlich fernes Weh“, heißt es im Song „Radio“.

Die alte Stärke Rammsteins, aus Theatralik, Ironie, bösen Gitarrenriffs und eingängigen Melodien massentaugliche Hits zu formen, dabei eindrückliche Bilder, eine Art Kopfkino entstehen zu lassen, setzt sich auf dem neuen Album aber kaum durch. In den beiden aufeinanderfolgenden Song-Plattitüden „Ausländer“ (es geht um einen Gigolo auf Sommerfrische) und „Sex“ scheint es fast so, als hätten die Musiker eine Parodie auf sich selbst geschrieben. „Diamant“, die obligatorische Power-Ballade des Albums, kann die Grenze zwischen ernsthafter Rockmusik und Schlagerkitsch ohnehin nicht mehr eindeutig ziehen. Wäre der Song nicht so öde, man könnte darüber lachen.

Deutschlands erfolgreichster Rockmusikexport

Die latente Ideen- und Lustlosigkeit wird den enormen Erfolg indes kaum schmälern. Rammstein bleibt Deutschlands erfolgreichster Rockmusikexport, die Live-Performances sind ein perfekt inszeniertes Spektakel zwischen Feuershow, Pathos und absurder Theatralik. Die Berliner Autorin, Moderatorin und Rammstein-Kennerin Marion Brasch verglich die Konzerte einmal mit einem schön bunten, bösen Kindergeburtstag: „Sie machen trotz ihrer vordergründigen Brutalität schöne Musik“, sagte sie im profil-Gespräch. Über das Phänomen Rammstein – bisher wurden über 20 Millionen Alben verkauft – kursiert bis heute ein geflügeltes Wort: Für die deutsche Sprache habe die Band in den vergangenen 25 Jahren mehr getan als das Goethe-Institut seit seiner Gründung. Immer wieder kann man von internationalen Fans lesen, die dank der sechs Musiker Deutsch gelernt haben. Ob in Südamerika, den USA, Australien oder Frankreich – überall singen die Menschen die Texte nahezu fehlerfrei mit.

Das neue Album führt die Musiker auf ihrer ersten Stadiontour quer durch Europa – von Moskau über Paris und Kopenhagen bis nach Barcelona. In Österreich wird Rammstein gleich zwei Mal im Wiener Ernst-Happel-Stadion gastieren (22. und 23. August). Beide Konzerte waren innerhalb weniger Stunden restlos ausverkauft. Ob die „Deutschland“-Kritik der Band bei den Live-Shows zu den Zehntausenden Fans durchdringen wird?

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Philip Dulle hörte von Rammstein zum ersten Mal als Elfjähriger Mitte der 1990er-Jahre beim Tischtennisspielen mit Freunden in Kärnten. Ein älterer Nachbarsbub hatte den harten, sofort süchtig machenden Musikstoff (krachende Gitarren, böse Texte, rollendes R!) aus der Schule mitgebracht. Das auf Audiokassette überspielte Banddebüt „Herzeleid“ verbreitete sich wie ein Lauffeuer, Gerüchte über Konzerte mit Flammenwerfern machten die Runde – die perfekte Musik, um seine Eltern zu erschrecken. Diese Faszination hat bis heute nicht ganz nachgelassen. Der Autor, mittlerweile 35, freut sich schon auf das nächste Live-Spektakel.

Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Von 2009 bis 2024 Redakteur bei profil.