Literatur

Raphaela Edelbauer: Morgen ist Weltuntergang

Raphaela Edelbauer zählt zu den herausragenden Jungautorinnen Österreichs. In ihrem neuen Roman und am Wiener Burgtheater erteilt sie dem Land bittere Geschichtsstunden. Begegnung mit einer rastlosen Erzählerin. 

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Weihnachten im Februar, das dürfte nach Raphaela Edelbauers Geschmack sein. Im Hinterzimmer des Ottakringer Café Ritter thront noch immer eine raumhohe und üppig geschmückte Weihnachtstanne, die allmählich die Äste hängen lässt. Stammgäste brüten über Schachbrettern, Kleinkinder tummeln sich im Bällebad. Es könnte eine Miniatur aus einem Edelbauer-Roman sein. Viel Zeit bleibt der Wiener Autorin in dem heiteren Durcheinander aber nicht. Sie muss weiter. Soeben ist ihr neuer Roman „Die Inkommensurablen“ erschienen. Interviews, Termine, Lesungen. „Raphaela rastlos“, witzelt Edelbauer, die gern und viel lacht.  So würde, sagt sie, Thomas Brezina wohl das Buch über ihr Leben nennen. 

Tatsächlich hat Edelbauer, 33, in kurzer Zeit schon einiges an Strecke zurückgelegt. Für ihr Prosadebüt „Entdecker“ erhielt sie 2017 den Rauriser Literaturpreis; im Folgejahr wurde sie mit dem Publikumspreis beim Bachmann-Wettlesen ausgezeichnet. 2019 erschien ihr erster Roman „Das flüssige Land“, in dem sie einen Weiler namens Groß-Einland in einem Erdloch verschwinden und die Dörflerseelen versteppen ließ. Die Leere in der Landschaft im Edelbauer-Sound: „Das Loch war von unbekannter Tiefe, Verästelung und Feuchtigkeit. Es zog sich wie ein unterirdisches Myzel unter den Bergkuppen und Siedlungen durch, brach in Röhrchen und Netzen an die Oberfläche und schob kontinentaldriftartig das nervöse Erdreich zu grobkörnig atmenden Halden zusammen, unter denen der faulige, pilznetzige Verfallsprozess sich eingenistet hatte.“ 

Die Science-Fiction-Saga „DAVE“ wurde 2021 mit dem Österreichischen Buchpreis gekürt. Darin läutet Edelbauer das Ende der Welt ein, ohne ein einziges Mal mit dem Wort „Apokalypse“ zu fuchteln. Wenn nicht alles so ernst wäre, könnte man sich an diesen letzten Tagen der Menschheit erfreuen. 

„Es wurde schon behauptet, dass ich zehn, zwölf und noch mehr Stunden Tag für Tag am Schreibtisch sitze“, sagt Edelbauer, die oft zwei Gedanken in einen Halbsatz packt. „Alles Mumpitz. Schreiben ist eine Freude, und was einem eine Freude macht, macht man gern.“ Was seien schon acht Stunden? Andere Leute säßen täglich so lange im Büro. „Mein Debüt, ‚Entdecker‘, ist sechs Jahre her. In meiner eigenen Wahrnehmung hat alles irrsinnig lange gedauert. Jahre mit vielen Nebenjobs. Die frühen Jahre meines Schreibens waren keineswegs triumphal.“ Als Lektorin unterrichtet sie inzwischen Sprachkunst an der Wiener Universität für angewandte Kunst, wo sie auch studiert hat.

Seit Samstag der Vorwoche steht die Adaption von „Das flüssige Land“ in der Regie von Sara Ostertag auf dem Spielplan der Burgtheater-Spielstätte Kasino am Schwarzenbergplatz. Der Schlund in der Siedlung ist die gigantische Wunde, die 80 Jahre später noch schmerzt: „Im Grunde war das ja nichts Besonderes in Österreich – dass die Verbrechen im Nationalsozialismus sorgsam überdeckt worden waren und dann eben doch herauskamen“, notiert Edelbauer in „Das flüssige Land“ über eine Nebenstelle des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen: „Schon allein das war erstaunlich: Dass man ein Massengrab hatte vergessen können. Weit seltsamer aber noch war das Verschwinden der Siebenhundertfünfzig: ein Leichenberg, den die Erde spurlos verschluckt hatte.“

Hans in „Die Inkommensurablen“ stiert ebenfalls in die Schwärze eines bodenlosen Lochs: „Das Zivilisierte, sein ganzes Menschsein war so unendlich weit fort; nie und nimmer würde er aus dieser Schwere wieder auftauchen können.“ Edelbauer verdichtet Weltgeschichte an einem Tag, der in 1000 Stücke zersplittert: In Wien warten die Menschen am 31. Juli 1914 auf das Verstreichen des deutschen Ultimatums an Russland. Anderntags, am 1. August 1914, schreien die Schlagzeilen: „Zu den Waffen! Der Kaiser hat die Mobilmachung der gesamten deutschen Streitkräfte angeordnet.“ Im Getümmel treffen der Tiroler Pferdeknecht Hans, der musische Adelige Adam und die Armenhäuslerin Klara  aufeinander. Drei junge Erwachsene, deren Lebenslinien sich mit der Historie schneiden. 

Der tumbe Tiroler Tor trägt seinen Vornamen mit einigem Recht. Er tönt tatsächlich wie eine Mischung aus Hans im Glück und Forrest Gump, während auf Adam, den Spross einer alteingesessenen Sippe von Militärs, die sichere Rekrutierung wartet. Die Mathematikerin Klara wird an der Universität von Burschenschaftern mit zersäbelten Gesichtern und anderen hitzköpfigen Kriegsschreiern daran gehindert, ihr Rigorosum über die „Inkommensurablen“ zu halten, zwei Zahlenmaße, die, grob gesprochen, weder mess- noch vergleichbar sind, die in keinem vernunftgemäßen Verhältnis zueinander stehen.

„Sprache ist das fundamentalste Prinzip, dem man sich nähern kann.“

Der Roman erzählt vom langen Tag dieses zusammengewürfelten, traurigen Trios. Mehr braucht Edelbauer nicht, um eine Ahnung vom Auseinanderfallen und Kippen, vom Wirbeln und Toben, vom Grundbrummen und Herumgeschrei der Epoche zu vermitteln, jener giftigen Mixtur aus Mathematik und Massenwahn, Stillstand und Raserei, Aufbruch und Untergang. Schlafwandlerisch ins Verderben. 

In einer Reisenotiz deutete Franz Kafka bereits 1912 jene Epoche, die sich mit dem Ersten Weltkrieg entfalten sollte, als das „nervöse Zeitalter“ – im Gegensatz zum „Zeitalter der Sicherheit“, das Stefan Zweig noch im 19. Jahrhundert ausgemacht hatte und dem regelrechte Zauberkräfte eingeräumt wurden: In einer romantischen Reminiszenz wird sich Thomas Mann später die Fahrradmarke „Safety“ ins Gedächtnis rufen, Sinnbild für die „unerschütterliche Lebensgrundlage meiner Jugend“. 

Wie Edelbauer die Ära nervöser Überspanntheit und nervlicher Drahtseilakte als Stimmencollage in aller erzählerischen Freiheit wiederauferstehen lässt, samt historischer Rückgriffe und einem Sammelsurium an Traumbildern, ist schlicht grandios.

„Ein Volkskörper, ein Kriegskörper“, ist in „Die Inkommensurablen“ zu lesen: „Es gab ein unüberschaubar großes Gewebe, in das sie alle in wüsten Zöpfen und Verfilzungen eingewoben waren.“ 

In Edelbauers Büchern ist oft von Landschaften, Räumen und Netzen die Rede, in denen sich Unterschiedliches und Widersprüchliches verfängt, von unentwirrbaren Knotengeflechten in Alltag und Denken. Hans, Adam und Klara sind diesem Gefilz alarmierender Kräfte hoffnungslos ausgeliefert. 

Mit 15 Jahren begann Raphaela Edelbauer zu schreiben. Schon damals wollte sie Schriftstellerin werden. „Kürzlich las ich, dass Menschen sich insbesondere an jene Erlebnisse in ihren Biografien erinnern, die sie ins Weltgefüge eingreifen ließen, die etwas veränderten. Genau das ist mir früh mit dem Schreiben passiert.“ 

Als Autorin fällt Edelbauer gern mit der Tür ins Haus. Sie schreibt eine vorwärtsdrängende Prosa, die für Emotionen sorgen soll und für Reflexionen gleich mit, ein rares Kunststück. Auf dem weiten Feld der ungelenken Metaphern treibt sich die Autorin frohgemut um. Dem Landei Hans ist so zumute, als habe er sich an der „Ringstraße abgerieben wie an einer harten Käsereibe; Stücke von ihm waren graupelig an den Fassaden liegen geblieben“. 

Bei anderer Gelegenheit „korkenziehert“ einer im Kreis, einem anderen jagt „gischtig die Gänsehaut“ über die Arme. Es ließe sich Beispiel an Beispiel reihen: „Die Erschöpfung kauerte auf ihnen wie ein nackter Affe.“ Hauptsache, die Prosa klingt und schwingt. Andererseits: Wenn ein Zeitalter den Salto mortale probt, darf auch die Sprache Luftsprünge machen. 

Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Arnold Schönberg, Alban Berg, Alfred Jarry, Sigmund Freud und der Psychoanalyse-Mitbegründer Josef Breuer; der Sexualwissenschafter Richard von Krafft-Ebing und der Biologe Paul Kammerer, der Sarajewo-Attentäter Gavrilo Princip sowie etliche Kriegstreiber mit Backenbart und Nasenzwicker geistern buchstäblich durch diesen Gespensterstunderoman. Grundiert wird die kolossal-kollektive Wirrköpfigkeit, die in Materialschlachten und Schrapnell-Unwettern mit Millionen Toten münden wird, von Psychoanalyse, ominösen Traumclustern, Frauen, die Frauen lieben, und Massenhysterie: „Man war endlich nicht mehr man selbst. Man war endlich Österreicher oder sogar Deutsch-Österreicher.“ Edelbauer entfaltet in ihrem Roman ein mögliches Panorama der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Es nähme einen nicht Wunder, wenn hier selbst der Kluge Hans mit den Hufen klapperte, jenes berühmte Pferd, das angeblich rechnen und zählen konnte und später auf dem Schlachtfeld zu Tode geschunden wurde. 

Einen Tag lang hält die Welt für Hans, Adam und Klara eine kleine Bühne bereit. In endlosen Gesprächen sortieren Adam und Klara, von Hans mit roten Ohren belauscht, ihre Gedankensprünge über verwinkelte Theoreme und hochtrabende Hypothesen, die Ursache-Wirkung-Bögen über Jahrtausende hinweg spannen und Berge von Metaphysik auftürmen. Edelbauer umkreist die Vergangenheit ohne jede Glorie. Der Roman ist getrieben von einem Erzählen, das die bald eingeäscherte Welt, in der die Figuren leben, umreißt. Kein Halt mehr, nirgends. Wie Sand rieselt das Leben durch die Finger. Deutungshoheit über das eigene Dasein? Vergebens. Alles ist viel zu viel, gänzlich inkommensurabel. Morgen ist Weltuntergang. 

Sie selbst, sagt Edelbauer im Café Ritter, ehe sie zum nächsten Termin eilt, werde weiterschreiben, bis sie mit den Füßen vorwärts aus ihrer Dichterinnenkammer getragen werde. „Streift mich zuvor die Demenz, hoffe ich, dass ich zumindest großartige Gedichte à la Hölderlin zustande bringen werde“, lacht sie. Und weiter, wieder ernster: „Sprache ist das fundamentalste Prinzip, dem man sich nähern kann. Sprache ist ungemein vielfältig, berührt von der Natur bis zu sozialen Gefügen so ziemlich alles. Schreiben ist zudem lustig, weil man Witze machen, die Dinge ins Groteske steigern kann. Diese Mischung aus Wahrhaftigkeit und Humor ist für mich ideal.“ 

Ihr kommendes Buch soll den Titel „Weltformel“ tragen, Roman Nummer vier, der sich um eine philosophische Terrororganisation dreht, wird 2025 erscheinen.

Wie eine Mauer erhebt sich gegen Ende von „Die Inkommensurablen“ das Gebrüll, mit dem Jung und Alt, Arbeiter und Intellektuelle, Linke und Rechte den Kriegseintritt feiern: Zu den Waffen! „Der Krieg ist unser Vater, er hat uns gezeugt im glühenden Schoße der Kampfgräben als ein neues Geschlecht“, wird Ernst Jünger später schreiben. Einstweilen steht Hans noch in Wiens Straßen und sieht dabei zu, wie der Krieg das Leben verschlingt: „Dort hinten, wo der Kanal wieder in den Ring überging, eröffnete sich ein riesenhafter Schlund, in den die Menschen marschierten.“ Es zieht Hans mächtig hinein.

Wolfgang Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.