Schwierig auch, wie mit Kritik an den Corona-Maßnahmen umgegangen wurde. Die Schauspielerin Katharina Knap saß im Zeugenstand, weil sie die Impfung abgelehnt und dadurch berufliche Nachteile erfahren hat. Höchst emotional entwickelte sich der Schlagabtausch, Dohr trieb die schlecht vorbereitete Kandidatin, die nicht einmal sagen konnte, welche Informationsquellen sie verwendete, schnell in die Enge. Brücken werden so freilich nicht geschlagen, obwohl Festwochen-Chef Milo Rau sich gerade von diesem Projekt eine Versöhnung über die Lager hinweg erhofft, wie er in Interviews betont. Erst dem österreichischen Physiker Florian Aigner, der im Zeugenstand folgte, gelang dieser schwierige Spagat. Anwalt Dohr fragte, was er von der „selbst ernannten Schwurblerin“ Knap halte. Aigner meinte, er könne sie verstehen, jeder von uns glaube auch an Dinge, die falsch seien. In der Pandemie haben viele Halt gesucht und seien in andere soziale Umgebungen abgewandert. Es gehe darum, neues Vertrauen aufzubauen. Viele der falschen Thesen Knaps ließen sich einfach widerlegen.
Natürlich hatten die gefällten Urteile keine Rechtskraft. Ob damit nicht zu viel Geld für kunstlose Symbolpolitik ausgegeben wurde, wird sich erst am Ende des Festivals mit gebührender Objektivität klären lassen. Die aktive Beteiligung im „Standard“-Forum hielt sich in Grenzen, was sich aber ändern könnte: Am zweiten Wochenende geht es ab dem 7. Juni nämlich um die heikle Frage, ob die FPÖ gegen Maximen der Verfassung verstößt.
Pseudopolitische Parolen
Es sind die ersten Festwochen des Regisseurs Milo Rau, der für seine politische Kunst bekannt ist. In den letzten Wochen musste man den Eindruck gewinnen, Rau sei in heimischen Medien omnipräsent; er sprach über die Dicke von Palatschinken ebenso wie über Kriege, Antisemitismus und anderes Weltgeschehen. Die Grenze zwischen sozialem Engagement, Festivalwerbung und persönlicher Eitelkeit war dabei oft schwer auszumachen. Zwischen all dem Aktionismus um eine „Freie Republik Wien“ schien nicht selten das künstlerische Programm unfreiwillig in den Schatten zu rücken. Rauvolution statt Bühnenkunst? Pseudopolitische Parolen statt theatralischer Reflexion? Wie auch in Raus Inszenierungen, für die meist in Krisengebiete gereist wird, stellt sich die berechtigte Frage, wie nachhaltig das alles letzten Endes sein wird.
Eine schlüssige künstlerische Handschrift in der Programmauswahl zeichnet sich bislang nicht ab, was daran liegen mag, dass diese Intendanz ihren Platz erst finden muss, die neuen Festwochen sich erst einspielen müssen.
Immerhin gab es da und dort bereits Spannendes zu erleben. In „Liebestod“ legte die spanische Regisseurin Angélica Liddell ihre radikale Poetologie offen: in einer todessehnsüchtigen schwarzen Messe mit starken Bildern, langatmigen Tanzszenen – und abstrusen Thesen. Liddell ist berühmt für ihre Hassreden, diesmal setzte sie sich selbst („Du machst nur Theater, weil dich niemand liebt“) und das Publikum („nur Frauen und Schwule“) dem Spott aus, hielt ein Plädoyer für eine Theokratie und verzapfte auch sonst allerlei Bedenkliches: „Ich möchte nach Afrika gehen und Löwen jagen.“ Kim de l’Horizons „Blutstück“ dagegen erschien grundsympathisch, aber szenisch eher unterfordernd. Der Slapstick-Abend „Die Rechnung“ des Briten Tim Etchells hingegen war ein gelungenes Beispiel dafür, wie smart niederschwelliges Theater in den Bezirken aussehen kann.
Lichtschimmer der Hoffnung
Das bisherige Highlight des diesjährigen Festivals aber ist eine Uraufführung, die in Ungarn, der Heimat des Regisseurs Kornél Mundruczó, nicht gezeigt werden darf, weil sie marginalisierte Gruppen ins Zentrum rückt: die jüdische Familie einer im KZ Auschwitz geborenen Frau und die queere Identität ihres heranwachsenden Sohns. Wie realistisch Mundruczó und sein fantastisches Ensemble in einer heruntergekommenen Budapester Wohnung agieren, muss man gesehen haben. Überrascht wird man mit völlig surrealen Szenen und im zweiten Teil einer schwulen Sexparty, in der deutlich wird, dass selbst in einer kleinen Bubble unterschiedliche Welten aufeinanderprallen können: Eine Figur ist nicht geoutet und arbeitet für die Regierung Orbán, während der in Berlin lebende Sohn mit Begriffen wie Body Positivity hantiert. Am Ende tanzen alle Darstellenden gemeinsam, was durchaus als Lichtschimmer der Hoffnung in dunklen, trennenden Zeiten zu verstehen ist. „Parallax“ ist komplex, aufwühlend und aufklärend. Der Abend zeigt, wie stark Kunst gerade dann sein kann, wenn sie eine poetische Form findet, um über die tiefgreifenden Verwerfungen unserer Tage zu erzählen.