An der Schwelle
Am 21. Mai, eine Woche nach Festivalstart, wird es so weit sein, dann soll „The Village Next to Paradise“ im Kinopalast an der Croisette enthüllt werden. Welches Paradies meint der Titel eigentlich? Der Regisseur erklärt es indirekt: „Wenn die Politik eine andere wäre, wenn einige seiner äußeren und inneren Probleme gelöst werden könnten, hätte das Land, in dem wir gedreht haben, das Potenzial zu einem Paradies.“
Ist sein Film auch so etwas wie eine Utopie? „Vielleicht. Die Leute in diesem Land stehen wie an der Schwelle zu einem Paradies. Sie müssten nur ein paar Schritte machen, aber das erscheint angesichts der Umstände fast unmöglich.“ Auf einer zweiten Ebene sei natürlich auch das Meer, an dem das Dorf seines Films liege, eine Art Paradies.
Mo Harawe, geboren 1992 in Mogadischu, kam 2009 als 17-Jähriger nach Graz, später zog er weiter nach Wien; als Autodidakt begann er seine Regietätigkeit, seit ein paar Jahren aber studiert er an der Kunsthochschule in Kassel Visuelle Kommunikation mit Schwerpunkt Film; 2025 hofft er sein Studium abschließen zu können. Es sei keine klassische Filmausbildung, das gefalle ihm daran, es sei breiter angelegt als vergleichbare Studien. Über seine Familie und die Frage, wie es ihn nach Österreich verschlagen hat, mag er nicht sprechen, sein Privatleben bittet er auszusparen. Nur so viel: Das Kino habe er spät entdeckt, als Kind daher nie den Traum gehabt, Filmemacher zu werden. In Somalia war er nach 2009 lange nicht, erst als Regisseur kehrte er zurück in das Land seiner Geburt.
Die politische Lage dort ist allerdings, auch infolge eines seit Jahrzehnten andauernden Bürgerkrieges, instabil, Österreichs Außenministerium führt Somalia aktuell in der Liste der dringendsten Reisewarnungen, attestiert eine „generelle Gefährdung für Leib und Leben“. Natürlich seien Dreharbeiten in Somalia „mit Unsicherheiten verbunden“, sagt Harawe. Es komme aber darauf an, wo man drehe. An bestimmten Schauplätzen sei das möglich. „Aber die Herausforderungen sind zahlreich. Denn das Filmemachen ist in Somalia nicht so normal wie im Westen. Man erregt Aufsehen. Es gibt oft auch eine starke Skepsis gegen Menschen, die mit Kameras hantieren: Sind das Journalisten? Wie wollen sie uns darstellen? Aber da wir drei Monate lang an diesem Film arbeiteten, konnten wir ein starkes Vertrauen in der Region, bei den Leuten aufbauen.“
Europäische Unternehmen allein hätten es ungleich schwerer, in Somalia einen Film zu drehen, sagt der Regisseur noch, schon deshalb sei es nötig gewesen, auch eine somalische Firma an der – budgetär von Österreich, Frankreich und Deutschland getragenen – Produktion zu beteiligen, einen Verein, der den Dreh „rechtlich und logistisch erst ermöglicht“ habe. Zwischen Ende Juni und Ende September 2023 liefen die Dreharbeiten.
Sein Film, so Mo Harawe, befasse sich mit dem Alltag einer „unkonventionellen Familie“. Er entwerfe eine Art Mikrokosmos in einem größeren Universum. „Man folgt diesen Figuren und erkennt, welche externen und internen Faktoren ihre Entscheidungen im Alltag beeinflussen. Ihr Leben und die Entscheidungen, die sie in ihrem Dorf treffen, sind von größeren Zusammenhängen abhängig.“
Dasselbe gilt für die beiden Kurzfilme, die er davor inszeniert hat. Um existenzielle Themen kreist sein Kino unaufhörlich, die er aber subtil unterspielt: Das Motiv des Giftmülls, den die ehemalige Kolonialmacht Italien regelmäßig ins Meer vor der somalischen Küste kippte, bildet in „Life on the Horn“ nur den Hintergrund einer Vater-Sohn-Geschichte, und dass sich „Will My Parents Come to See Me?“ in einen Film über die Todesstrafe entwickeln wird, ist anfangs nicht abzusehen. Harawe liebt es, sich nicht nur im Gespräch persönlich zurückzunehmen: Zur Idee seines Hinrichtungsfilms habe es gehört, niemanden zu beurteilen, einfach die Fakten zusammenzutragen. Und damit eine Debatte zu beginnen. „Das wäre die Hoffnung.“ Er drehe seine Filme nicht, um sein „Ego zu befriedigen“ oder bloß seine Meinung zu einem Thema zu beleuchten, er wolle vielmehr „ohne Werturteile und Lösungsvorschläge verschiedene Positionen darstellen. Ich behandle meine Themen nicht mit erhobenem Zeigefinger; ich stelle etwas dar, zu dem andere sich ihre Meinung selbst bilden sollen.“
Sein Ensemble setze sich aus „nichttrainierten, aber professionellen“ Schauspielkräften zusammen. Laien wolle er diese nicht nennen: „Sie haben keine Filmausbildung gemacht, aber sie sind alle Profis, haben einen tollen Job gemacht.“ Politisch sei sein Kino jedenfalls, gerade auch, wenn er vom Alltag in Somalia erzähle. „Alles ist politisch, jede Idee beeinflusst alles Weitere. Man kann nichts filmen oder schreiben, ohne eine Meinung dazu zu vertreten.“ Die visuellen Künste seien insbesondere politisch wirksam, weil ihre Reichweite derart groß sei. „Sobald man eine Kamera nimmt und sie auf etwas richtet, den Ausschnitt einer Welt einfängt, trifft man eine große Entscheidung.“
Von den Rändern her
Mo Harawes Inszenierungsstil ist beeindruckend: Er verwendet lange Einstellungen, kaum Dialoge, wenig Musik, zieht die stille Genauigkeit dem sinnlichen Übermaß vor. Und er verfährt dabei nicht pädagogisch, nie manipulativ. Auch in „The Village Next to Paradise“, so sagt er, dringen die große Themen eher unauffällig, von den Rändern her ein. Mit der Frage, was ein europäisches Kinopublikum von den somalischen Geschichten, die er so präzise drechselt, lernen kann, will sich ihr Schöpfer nicht befassen. Er hege diesbezüglich keine Erwartungen. In erster Linie stelle er seine Arbeiten für sich selbst her, erklärt er noch. „Für mich sind Filme wie eine Therapie.“ Es gehe ihm darum, sich künstlerisch mit Dingen auseinanderzusetzen, die ihn gerade stark beschäftigten.
„Ich weiß nur, dass ich bestimmte Gefühle provozieren und Bilder von Lebensräumen entwerfen kann, die vielleicht manchen Menschen ganz unbekannt sind. Aber ich denke darüber nicht viel nach. Vielleicht schütze ich mich so auch vor Enttäuschungen. Ich kann nicht wissen, wie lange mein Film in den Köpfen derer bleiben wird, die ihn gesehen haben: Wird er einen Tag lang in ihrem Bewusstsein bleiben? Länger? Gar für immer? Aber ich weiß, dass es eine Erfahrung sein wird, die man sonst nicht machen kann.“