Regisseur Christian Petzold

Regisseur Christian Petzold: „Ich bin ja kein Personalchef“

Regisseur Christian Petzold: „Ich bin ja kein Personalchef“

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profil: Sie schreiben gerade am Drehbuch zu Ihrem nächsten Kinofilm, der nach Anna Seghers’ Roman „Transit“ entstehen wird, zugleich arbeiten Sie an zwei weiteren Episoden für die Krimiserie „Polizeiruf 110“. Diese Woche reisen Sie nach Wien, um Rückschau auf Ihr Werk zu halten. Wie blickt man aus der Mitte seines Schaffens auf das Eigene zurück? Christian Petzold: Ich bin eigentlich auf der Flucht vor Reflexion über mich selbst. Aber Leute, die Bücher über meine Filme schreiben, stellen mir Fragen, Kinematheken wollen Material für Ausstellungen; und dann finden eben Retrospektiven wie nun in Wien statt. Ich bin da nicht so euphorisch, weil mir die Rückschau ein bisschen Angst macht.

profil: Wieso denn Angst? Petzold: 1995 drehte ich einen ersten längeren Spielfilm – „Pilotinnen“, meine Abschlussarbeit an der Berliner Filmhochschule. Dort hatte ich meine Ruhe gehabt, denn ich galt dort eigentlich als Versager, ohne relevanten Output. Ich hatte mein ganzes Studium über nur Filme geschaut, Seminare besucht und wenig sonst gemacht, wohl aus Angst, mich zu veröffentlichen. Ich war aber auch irritiert, steckte in einer Art Krise, denn ich hatte gedacht, ich wüsste, wie das Filmemachen funktionierte – aber nach einem Jahr an der Hochschule wusste ich nichts mehr.

Wo waren die Arbeiterhände im Kino? Warum gab es keine Schwielen mehr? Warum sahen die Darsteller von Proletariern alle so aus, als hätten sie einen Hochschulabschluss?

profil: Und dann wollten Sie das Kino erst einmal von Grund auf neu analysieren – um zu sehen, was es eigentlich kann und darstellt? Petzold: Ja, mit Harun Farocki, der schon damals in allen Filmbelangen mein engster Vertrauter war, dachte ich über Detailfragen nach – zum Beispiel über Hände im Film. Uns fiel auf, dass die Hände, die gefilmt wurden, keine echte Physis mehr hatten, keinen Ausdruck, keine Bedeutung. Wo waren die Arbeiterhände im Kino? Warum gab es keine Schwielen mehr? Warum sahen die Darsteller von Proletariern alle so aus, als hätten sie einen Hochschulabschluss? In den 1970er-Jahren, in John Carpenters Filmen zum Beispiel, konnte man noch Frauenhände sehen, die eine Waffe nachladen, und es war klar, das sind die Hände einer Frau aus der Arbeiterklasse. Sie waren nicht schön, sondern geschickt. Und ich wollte unbedingt Filme machen, in denen es auch um die Körper der Menschen geht. Ich wollte dieses Physische zeigen und sehen: Hände, Bewegungen, Gesichter.

profil: Ihre Filme sind oft seltsame Mischungen aus physischem Realismus und intellektueller Zuspitzung. Sie suchen per Stilisierung „das Ungekünstelte“. Ist das nicht paradox? Petzold: Finde ich nicht. In aktuellen TV-Großproduktionen kann man gut sehen, wie der Begriff des „Ungekünstelten“ missverstanden wird: Da werden etwa die Nazis als Menschen wie du und ich dargestellt, damit wir auch den Nazi in uns selbst erfühlen können. Das ist aber die primitivste Position, die man einnehmen kann. Ich bin auf der Suche nach einer klaren Position zu den Dingen. Als Filmemacher nähere ich mich mit einer Gruppe von Leuten etwas Komplexem, einem Gebäude – und zu diesem Gebäude brauche ich eine Position, ich muss Entscheidungen treffen. Und die führen zu einer gewissen Stilisierung. Ich war immer begeistert von John Cassavetes’ Methode: Er probte vor dem Drehen mit seinem Ensemble drei Monate lang, um dann Filme zu machen, die so aussehen, als wären sie ganz zufällig und improvisiert entstanden. Dabei ist das alles unglaublich präzise. Das ist die Präzision des Gefühls – und jene des Erzählraums. Cassavetes hat Filme gedreht, denen ich vertrauen kann. Weil er mit seinem Team etwas ausprobiert und erforscht hat – und bis an den Punkt ging, an dem der Abgrund sich öffnet.

Im Spielfilm erzählt man ganz grundsätzlich von Menschen, die kurz vor der Auslöschung stehen, weil sie nur für diese 90 oder 120 Minuten existieren.

profil: Sie suchen im Kino Vertrauen? Petzold: Das ist entscheidend. Wenn ich ins Kino gehe und das Vertrauen schon in der dritten Einstellung verliere, kann ich nicht mehr hinschauen. Wir haben alle Angst, wenn wir einen Film machen, ganz besonders die Darsteller, weil sie sich weit öffnen und vieles geben müssen. Nur das Vertrauen kann diese Angst bannen. Das gemeinsame Sehen von Filmen geht auch nur, wenn man einander absolut vertraut. Und im Spielfilm erzählt man ganz grundsätzlich von Menschen, die kurz vor der Auslöschung stehen, weil sie nur für diese 90 oder 120 Minuten existieren. Der letzte Atem treibt sie an, das Leben dringt noch einmal in ihre Sterbekapseln ein – und sie beginnen die Welt wieder wahrzunehmen, ihren Geruch, die Natur, ein Lächeln. Das sind für mich Kinomomente.

profil: Sie erzählen in Ihrer Arbeit – nicht nur in den mittlerweile sechs Filmen, die mit Nina Hoss als Protagonistin entstanden sind – fast immer aus weiblicher Perspektive. Wieso eigentlich? Petzold: Erst durch die Perspektive der Frauen gehörten mir die Geschichten nicht mehr, die ich geschrieben hatte. Ich will ja die Neugier und das Staunen filmen, ohne die Anmaßung des Sich-Hineinversetzens, ohne exakt zu wissen, wer die Figuren sind, von denen ich erzähle. In einem Film Noir von Otto Preminger oder Robert Siodmak habe ich nie das Gefühl, dass der Regisseur sich selbst seinen Figuren wiedererkennt. Aber man fühlt mit.

profil: Da ist Empathie, nur ohne die Arroganz, eine Figur vollständig begreifen zu können. Petzold: Aber Empathie ist Arbeit, die stellt sich nicht von selbst her. Nur bei Rosamunde Pilcher kommt die Empathie von selbst. Die Arbeit, die in einem Film geleistet werden muss, um die Figuren wenigstens teilweise zu verstehen und zu lieben, muss man auch als Zuschauer leisten. Denn oft ist die Ambivalenz einer Figur gar nicht leicht zu begreifen. Nehmen Sie etwa John Cazale in „The Deer Hunter“: Was ist das für eine phantastische Figur? Und was bringt der für ein Leben in den Film! Er ist schwach, faul und hinterhältig, zugleich ist er aber so unglaublich vital! So müssen Schauspieler sein.

profil: Ist es denn auch so, dass Sie viele der Figuren in Ihren eigenen Filmen nicht restlos durchschauen? Petzold: Schon. Und das führt auch zu Schwierigkeiten, denn manchmal fordern die Schauspieler Informationen über ihre Figuren ein, die man selbst nicht hat. Bei „Phoenix“ führte uns alle das gefährlich nah an den Punkt, an dem uns das ganze Projekt wegzurutschen drohte.

Ich muss ein Kollektiv haben, ein bisschen wie in „Der Zauberer von Oz“

profil: Neben Ihren eigenen Werken zeigen Sie in Wien nun auch 21 Filme, die Ihnen Inspiration waren und sind: Melodramen, Krimis und Horrorfilme vor allem aus Amerika und Frankreich. Wie lange haben Sie über diese Liste nachgedacht? Petzold: Zehn Minuten. Das sind einfach Filme, die ich liebe, aber ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit. Ich kann solche Listen nicht mehr ernst nehmen. Ich weiß, dass ich da Hunderte Titel einfach vergessen habe, aber das ist ja nicht weiter schlimm. Wenn ich mit meinen Schauspielern probe, habe ich jeweils drei oder vier Filme, die meist nicht unmittelbar etwas mit jener Geschichte zu tun haben, die wir drehen wollen, aber eine Art von Stil oder Raum besitzen, die für unser Projekt wichtig sein könnte. Zwei, drei Monate vor Drehbeginn lade ich meine Darsteller ein, das Drehbuch zu lesen, Filme zu sehen, Musik zu hören. Ich erkläre dabei einfach nur, warum ich das alles mache. Das muss ich auf den Tisch legen, denn ich bin ja kein Personalchef, der ein Produkt herstellt. So treten wir als Gruppe in einen Kinoraum ein, in dem wir uns aufhalten wollen. Wir verpflichten uns damit einer Gefühlsarchitektur.

profil: Indem Sie diesen Kinoraum beschwören, beugen Sie der Unpersönlichkeit am Set vor? Petzold: Klar, denn mit Härte und Distanz kann ich nicht arbeiten, auf die alte tayloristisch-arbeitsteilige Weise – der Regisseur, der als Einziger weiß, wo’s lang geht. Nein, ich muss ein Kollektiv haben, ein bisschen wie in „Der Zauberer von Oz“: Die Vogelscheuche muss dabei sein, und ich brauche den Löwen und den Mann aus Zinn.

profil: Die Schönheit der Form entsteht bei Ihnen aus der Entschlackung, der Reduktion, der Vermeidung dekorativer Elemente. Geht es da auch um Zeitlosigkeit? Petzold: Ich merke, dass ich, wenn ich mit Kostümbildnerinnen oder Szenenbildners spreche, immer das Klassische suche. Wie die Leute einander zu einem bestimmten Zeitpunkt angeschaut haben, wovon sie geträumt haben, das kann man nur zeigen, indem man die Räume reduziert, vom Ballast des Alltäglichen befreit. Mein Paradebeispiel ist da natürlich Truffauts „Die Frau von nebenan“ – Die weiße Bluse von Fanny Ardant, der dunkle Pullover von Gerard Depardieu, das alles hat eine Klasse, die auch in 50 Jahren noch gültig sein wird.

Wir haben Reihenhäuser, wir haben Bayer, Volkswagen und die SPD, aber keine echten Bilder.

profil: Sie haben von der DDR, der RAF und dem Holocaust erzählt, gelten als Chronist deutscher Geschichte. Trifft das den Kern Ihres Kinos? Petzold: Ich fand immer, dass Deutschland von sich kaum Bilder hat. Ich wollte über ein Land erzählen, dem die Bildräume fehlen. Wir haben Reihenhäuser, wir haben Bayer, Volkswagen und die SPD, aber keine echten Bilder. Die Amerikaner zeigen eine Tankstelle im Abendrot, die Franzosen ein Kupferdach in Paris, vor dem zwei Leute eine Zigarette rauchen. Sie haben Bilder. Wir nicht. Liegt das daran, dass wir alle Revolutionen versaut, alles verloren haben? Wir haben außer dem Nationalsozialistischen keinen Mythos.

profil: Ihr Kino ist doch aber auch das Ergebnis der Vermeidung bestimmter Bilder. In „Phoenix“ berichten Sie vom Trauma der Shoah, aber ganz ohne Naziuniformen und Leichenberge. Petzold: Ja, weil ich sauer bin über die falschen Bildräume, die in Deutschland ständig produziert werden. Ich finde es auch furchtbar, wenn die RAF im Kino „rekonstruiert“ wird. Das sind dann bloß Nachbauten jener Fotodokumente, die alle schon kennen. Aber die RAF wirkt weiter, und sie hat Bilder hergestellt, die es erst noch zu finden gilt.

profil: Als Sie vor 16 Jahren in „Die innere Sicherheit“ über die Nachwirkungen des deutschen Herbstes drehten, konnten Sie nicht ahnen, wie sehr sich der Begriff des Terrorismus noch verändern würde. Müssten Sie den Terror, wie er heute existiert, nicht neu bearbeiten? Petzold: Das Selbstmordattentat hat alles verändert. Was Rudi Dutschke früher forderte, nämlich den Import der blutigen Kolonialkriege nach Europa, ist auf perverse Weise wahr geworden. Ich habe den Eindruck, jede linke Niederlage führt zur faschistischen Perversion einer Revolution. Die Dritte Welt, der wir nicht beistehen konnten, rächt sich nun auf europäischem Boden – und meint noch, dass eine religiöse Idee ihr das Recht dazu gibt.

Retrospektive und Carte blanche Christian Petzold: Österreichisches Filmmuseum, 7. April bis 4. Mai 2016

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.