Regisseur Thomas Heise: „Geschichte ist immer eine Zumutung“
Seine Werke sind ergebnisoffene Unternehmungen. „Die großen Ideen, die man hat, wenn man einen Film plant“, sagt Thomas Heise, 64, „erweisen sich beim Drehen als doch nicht so groß“. Und gerade das, was man nicht ganz ernst genommen habe, könne „ein unglaubliches Potenzial enthalten“. Sein jüngster, fast 220 Minuten langer Film trägt den etwas spröden Titel „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ (Kinostart: 8.11.), aber der Anspruch, den sich Heise dabei setzt, ist tatsächlich gewaltig: Der gebürtige Ostberliner entwirft, anhand persönlicher Dokumente, anhand von Fotos, Briefen, Tagebucheinträgen und anderen Fundstücken aus der Hinterlassenschaft seiner Großeltern und Eltern, ein Bild des finsteren 20. Jahrhunderts in Deutschland.
Es ist ein Film über Familie und Heimat, zugleich über Familienzerfall und Heimatlosigkeit: die Reise von einem autoritären System zum nächsten, von der NS-Verfolgung und Verschleppung seiner Großmutter und Tante über das Leben seiner Eltern, eines Philosophen und einer Germanistin, in der DDR. Heises Bilder sind metaphorisch lesbar: Der Zug der Geschichte ist hier buchstäblich in Bewegung, die historischen Risse und Bruchlinien sind sichtbar. Heute unterrichtet Thomas Heise in Wien, wo seine Vorfahren einst lebten, an der Akademie der bildenden Künste. Das folgende Gespräch wurde im April im Rahmen des Linzer Filmfestivals „Crossing Europe“ geführt, wo die Österreich-Premiere von „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ stattfand.
INTERVIEW: STEFAN GRISSEMANN
profil: Wie fasst man ein derart monumentales Projekt über die eigene Familie und ein ganzes Jahrhundert deutscher Geschichte ins Auge? War Ihr Film von Anfang an auf epische Länge hin konzipiert? Thomas Heise: Nein, das hat sich im Arbeitsprozess erst ergeben. Im Grunde ist es simpel: Man organisiert sich einen Erzählanfang und eine Finanzierung, dann fangen wir an zu arbeiten. So entsteht etwas.
profil: Die minimalistischen Landschaftsbilder, die Sie finden, und die ruhigen Rhythmen des Schnitts geben den Texten, Briefen und Notizen den Raum, den diese brauchen. Heise: Man muss Bilder wählen, die einen Bezug ermöglichen und trotzdem unabhängig von der Tonebene sind. Wie zwei Linien, die mal parallel verlaufen, mal einander schneiden, sich voneinander entfernen.
profil: Um in sanfter Bewegung durch das 20. Jahrhundert zu führen? Heise: Ich fand, der Film sollte die Geschwindigkeit einer Sonnenfinsternis haben – eine zwingende, unaufhaltsame Bewegung, die unglaubliche Kraft hat, ganz unbeeindruckt vom Menschen.
profil: Der Film ist auch eine Passage durch autoritäre Systeme, Diktaturen, die als Zumutung auf die intellektuellen Biografien Ihrer Familie einwirken. Heise: Geschichte ist immer eine Zumutung. Ob in den 1920er-Jahren, im „Dritten Reich“, in der BRD und der DDR – und auch danach.
profil: Und die Gegenwart, die ja auch nicht frei von Autoritarismus ist? Fügt sie sich in die Linie Ihres Films? Heise: Ja. Interessant wird es erst, wenn man anerkennt, dass die DDR immer zur deutschen Geschichte gehört hat, dass man BRD und DDR nur gemeinsam denken kann. Nur wenn ich die deutsche Nachkriegshistorie nicht in zwei Staaten aufteile, sondern sie wie einen Schizophrenen behandle, werde ich mehr über Deutschland erfahren. Das hat auch damit zu tun, dass die DDR-Diktatur auf einer utopischen Idee fußt. Es ist wahr, was Heiner Müller sagt: Die Jugend wurde in der DDR zugleich hofiert und kontrolliert. Da gab es eine hochpolitische Jugend, die keineswegs gezwungen wurde, die Weltfestspiele und Demos zu besuchen. Da wollten die hin.
profil: Weil das auch prononciert antifaschistische Kundgebungen waren. Heise: Klar. Während die Politisierung der in den Westsektoren lebenden Jugendlichen erst mit der wirtschaftlichen Konsolidierung einsetzt, nach dem Wirtschaftswunder, Anfang der 1960er-Jahre. Und dies führt dann zu 1968. Kurz vor der Wende konnte man das noch einmal sehen: Plötzlich waren die jungen Leute in der DDR wieder auf der Straße, im Westen kümmerte sich niemand drum. Bis die Mauer fiel. Da lief sehr vieles nicht parallel. Auch deshalb lasse ich bestimmte Dinge in meinem Film offen: als Widerhaken, die man zum Anlass nehmen kann, weiter zu forschen.
profil: Heiner Müller war ein Freund Ihrer Familie? Heise: Ja. Meine Mutter kannte ihn seit den späten 1950er-Jahren, mein Vater seit Mitte der Sechziger. Für mich war er eine Art Ersatzvater. Ich habe mit ihm mehr gesprochen als mit meinen Eltern. Ich war Lehrling in einer Druckerei, nahm einmal die ganze Klasse mit zu Heiner Müller. Das war kein Problem, er nahm das an.
profil: Müller gilt als mythische Figur der deutschen Nachkriegsdramatik. Heise: Für uns war der alles andere als mythisch. Als ich ihn kennenlernte, war ich gerade 13, mein Bruder 14. Bei ihm gab’s Wodka und Zigaretten, auch für uns. Das fanden wir toll. Müller war für uns wie ein Kumpel. Obwohl er schon über 40 war. Uns erschien er nicht wie ein Dichter.
profil: Sehen Sie Ihren „Heimat“-Film als ein zentrales Werk Ihres Schaffens? Heise: Mir ist klar, dass dieser neue Film in meiner Arbeit eine wahrscheinlich wichtige Rolle spielt. Aber ich kann mich nicht dauernd um mein Gesamtwerk kümmern. Zusammen mit meinem Film „Material“ gibt er Einblicke in die Zeit von 1988 bis in die unmittelbare Gegenwart. Geschichten von ganz verschiedenen Figuren, auch von Massen, vom ersten Sprechen und vom Schweigen derer, die bislang nicht zu hören waren. „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ schaut anhand einer privaten Familiengeschichte auf die Zeitläufte davor und danach. Beide Filme reflektieren das aktuelle Deutschland. Das ist, was ich zur deutschen Gegenwart zu sagen habe; der Erste Weltkrieg gehört da genauso rein wie der Zweite, die Deportationen und immer wieder das Verhältnis der Einzelnen zur Geschichte. Ich kann das alles nicht trennen voneinander.
profil: Die jeweils gegenwärtige Welt ist als Summe, als Ergebnis des vorangegangenen Jahrhunderts zu sehen? Heise: Ja. Ganz glatt geht das bestimmt nicht auf. In „Material“ heißt es, „man kann sich die Geschichte länglich denken, sie ist aber ein Haufen“.
profil: Der Liedermacher und Lyriker Wolf Biermann war ein Schüler Ihres Vaters. Gegen Biermanns Ausbürgerung protestierten neben Leuten wie Manfred Krug und Christa Wolf auch Heiner Müller und Ihr Vater. Heise: Biermann war Anfang der 1960er-Jahre in der DDR noch wohlgelitten. Als der Regimekritiker Robert Havemann, mit dem Biermann befreundet war, 1964 aus der Partei geworfen wurde, war mein Vater der einzige in der Parteileitung der Humboldt-Universität, der dagegen gestimmt hat. Damit begannen seine Probleme zwar nicht, aber sie wurden jetzt existenziell.
profil: In der DDR floss das alles oft eigentümlich ineinander; man war Spitzel und wurde selbst bespitzelt, hoffte darauf, dass man nie wirklich tätig werden müsste, war zu ideologischen Gratwanderungen verurteilt. Heise: Das ist komplexer, meine ich. Der lange Brief meiner Mutter an die Autorin Christa Wolf, aus dem ich im Film zitiere, benennt und beschreibt dieses Problem präzise.
profil: Auch Müller und Wolf ließen sich, wohl aus taktischen Gründen, als Informelle Mitarbeiter der Stasi führen. Heise: Das sehe ich so nicht. Das waren ganz verschiedene Vorgänge. Und zu ganz unterschiedlichen Zeiten. Das kriegt man nicht in einen Satz. Beide, nicht nur sie, identifizierten sich mit diesem Teil Deutschlands zunächst aus Überzeugung. Als sie sahen, was rasch daraus wurde, wollten sie das – wiederum in sehr verschiedener Weise – erst nicht erkennen und mussten es dann doch erfahren. Auch da waren sie nicht die Einzigen.