"POPPEA" IN LYON 2017

Retrotrend auf Bühnen

Opernhäuser und Theater rekonstruieren neuerdings verstaubte Klassiker. Wie sinnvoll ist der Retrotrend auf den Bühnen?

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In der Mode ist Retro schon lange ein Trend, der die Zirkulation der viel zu vielen Kollektionen mit ökonomischen Rückgriffen, Hommagen und Zitaten kreativ am Leben erhält. Dasselbe gilt für Pop, Kino, Architektur und Design. In der Bühnenkunst kam dergleichen indes nur spärlich vor. Bekannt waren überschaubare Retrobühnenmoden und Retrobühnenbilder, um eine bestimmte Epoche zu karikieren. Aber die Wiederbelebungen von alten, legendären Inszenierungen, deren Schöpfer längst tot sind? Daran hat man selten gedacht, eigentlich so gut wie nie. Der Geschmack ändert sich ständig, alte Produktionen wirken abgespielt, und neue Namen drängen auf die wenigen Premierenplätze. Musiktheater entsteht für den Augenblick, nicht für die Ewigkeit.

Daneben gibt es im deutschsprachigen Repertoiretheater freilich langlebige Inszenierungen wie den Mannheimer "Parsifal". Dieses feiert heuer sein 60. Jubiläum und wird vom neuen Musiktheaterchef Albrecht Puhlmann als lieb gewonnene Antiquität gefeiert. Oder die alten, erstaunlich schnörkelarmen Wiener Produktionen "Madama Butterfly" (Jahrgang 1957; Regie: Josef Gielen) und "Tosca" (1958; Margherita Wallmann): von Anfang an von den Spielleitern für durchreisende Spitzensänger konzipiert, mit zeitlos netten Bildern und erstaunlich gut gepflegt, weil bei allen Saisonplanungen notwendig. Beschädigte Dekorationsdetails werden regelmäßig ausgebessert, Kostüme nachgeschneidert, von der Bühnendecke leuchten stets die neuesten Scheinwerfer.

Und dann gab es die Jean-Pierre-Ponnelle-Fabrik. Die Inszenierungen dieses elegant-musikalischen Regisseurs, der oft als sein eigener Bühnen-und Kostümbildner fungierte, waren zwischen den 1970erund 1990er-Jahren bei den Theatern, die sich ihn leisten konnten, höchst begehrt. Mehrere Assistenten waren nach Ponnelles Tod 1988 mit Transfer und Wiederaufbereitung beschäftigt.

Jahr der Bühnenrekonstruktionen

2017 scheint nun das Jahr der Bühnenrekonstruktionen zu sein, nicht nur in der Oper, auch im Theater. Der umstrittene neue Berliner Volksbühnen-Intendant Chris Dercon überraschte kürzlich mit der Ankündigung, frühe Stücke von Samuel Beckett zu zeigen. An der Opéra de Lyon ist Intendant Serge Dorny ebenfalls in den Inszenierungskeller der Erinnerung gestiegen. Unter dem Titel "Mémoires" wurde kürzlich die Wiederauferstehung großer Bühnentoter als Retro-Festival zelebriert: Von Heiner Müller gab es den Bayreuther "Tristan" aus dem Jahr 1993; Ruth Berghaus' "Elektra" (1986) wurde ebenso belebt wie die "Poppea" von Klaus Michael Grüber von 1999. Müllers längst verklärte, heute ernüchternde Wagner-Inszenierung lebte damals von ihren magischen Lichteffekten und Waltraud Meiers Isolden-Ausstrahlung. Die "Poppea" war eine Freiluftaufführung mit zartem Stimmungszauber, und die "Elektra" fand auf einer Art Sprungturm statt, eingefasst von dem auf der Bühne sitzenden Großorchester. Eine Verlegenheitslösung: In der wiedererrichteten Semperoper passte die Originalmusikerbesetzung nicht in den Orchestergraben, in dem das Werk einst uraufgeführt worden war.

Damit nicht genug. Katharina Wagner soll für Prag im Frühsommer den Bayreuther "Lohengrin" nach den eher übersichtlichen Regiebüchern ihres Vaters Wolfgang von 1967 exhumieren. Seoul wünschte sich gar dessen letzten "Parsifal". Und in Mailand kommt Giorgio Strehlers Salzburger Scherenschnitt-Inszenierung der "Entführung aus dem Serail" von 1965 wieder heraus. Der Regisseur ist zwar seit 1997 tot, und keiner weiß, ob er heute noch zu dieser Jugendarbeit stehen würde. Sie ist als TV-Mitschnitt konserviert und sieht angesichts unserer aktuellen kulturellen Konfrontation mit dem Orient erschreckend harmlos aus. Am Pult wird in Mailand mit Zubin Mehta immerhin derselbe Dirigent wie damals stehen.

Serge Dorny nennt sein szenisches Manifest nun "Gedächtnis im Spiegel der Zeit". Er sagt: "Irgendwann erinnern wir uns an die Ereignisse, mögen sie groß oder klein gewesen sein, die unser Leben beeinflusst und ihre Spuren hinterlassen haben. Es sind diese Retrospektiven, die unsere Geschichte schreiben. Diese Neuschaffungen sind gewagt: Wie werden wir diese Meilensteine der Theater- und Operngeschichte heute, durch den Spiegel der Zeit, betrachten?" Das Alte also als das radikal Neue? Feiert das Ideal der (ohnehin nie möglichen) Werktreue Renaissance? Etwa weil das Subversive nicht mehr schick ist, die Enfants terribles mit ihren subjektiven Zugängen ausgebrannt sind? Werden deshalb schöne Leichen neu geschminkt, auch wenn sie streng riechen? Freilich mit Einschränkungen: Monteverdis "Orfeo", 24. Februar 1607 im Herzogspalast zu Mantua uraufgeführt als Geburtsstunde der Gattung Oper, wäre heute klanglich wie szenisch nicht mehr rekonstruierbar, selbst wenn es sämtliche Quellen gäbe -weil wir als moderne Zuschauer nicht mehr so empfinden wie die erstaunten, begeisterten, vielleicht auch befremdeten Menschen von damals. Genauso scheint bereits die Nachkriegsmoderne in die Ferne gerückt zu sein.

Verordnete ästhetische Bildung?

Auch wenn die Oper mit ihrem abgeschlossenen Werkkanon mitunter als Museum anmutet: Sie ist die Kunst des Jetzt, des schönen, gemeinsam genossenen Augenblicks. Sogar Aufzeichnungen sehen nach Jahren ältlich aus, peinlich betreten erinnert man sich bisweilen, wie sehr einen das damals rührte. Die Frage scheint berechtigt: Ist die aktuelle Retromania etwa eine Art verordnete ästhetische Bildung, weil dem heutigen, oft unbeleckten Publikum die Maßstäbe abhandengekommen sind? Wurden ihm diese auf der verbiesterten Suche nach Avantgarde und Fortschritt vorenthalten?

In Lyon versicherte man sich jedenfalls der Regieassistenten von früher. Sie alle vertreten die Idee, dass die Arbeit eines großen Künstlers kein Alter kennt. So war Stephan Suschke bereits nach dem Tod Heiner Müllers 1995 für die Original-Reprisen bis 1999 verantwortlich; die Kostüme Yohji Yamamotos dienten als Reproduktionsvorlage. Wesentlich sei aber, sagt Suschke, die "alten Inszenierungen nicht wie ein Museumsstück zu konservieren, sondern sie im Gegenteil wieder zum Publikum von heute sprechen zu lassen, wie Bücher aus der Vergangenheit, alte Filme, Gemälde aus der Renaissance oder antike Statuen uns befragen und uns bis heute berühren können".

Auch die Salzburger Osterfestspiele reihen sich in den Reigen prominenter Rückbesinnungen ein. Dort zeigt man am 8. April anlässlich des 50. Gründungsjubiläums die "Walküre" des Teams Herbert von Karajan/Günther Schneider-Siemssen aus dem Jahr 1967. Doch hier geht man anders vor. Christian Thielemann und Peter Ruzicka, die beiden Salzburg-Chefs, sprechen von einer "Re-Kreation". Dabei wird eben nicht Karajans gern als statisch belächelte Dunkelregie wiederaufbereitet. Auch die alten Kostüme werden nicht rekonstruiert: Sie dienten dem Bühnenund Kostümbildner Jens Kilian lediglich als Orientierungsund Assoziationsobjekte für seine neuen Entwürfe.

Legendäre Bühnenbilder

Was mit den Materialien und technischen Möglichkeiten unserer Zeit tatsächlich akribisch nachempfunden werden soll, sind die legendären Bühnenbilder von Schneider-Siemssen. Dieser ahnte mit seinem kosmischen Universalraum den Geist und die Optik vieler Science-Fiction-Filme voraus und wurde mit seinen eigens konstruierten Projektionsapparaten zum Vorbild. Peter Ruzicka: "Meine Überlegung war, die ikonenhafte Bühnenarchitektur mit einer Personenregie in Beziehung zu setzen, die heutiger szenischer Ästhetik - bei neuem Kostümbild - entspricht." Deshalb wird auch mit Videoprojektionen gearbeitet, wo sich der 2015 verstorbene Schneider-Siemssen noch mit bemalten Glasplatten begnügen musste, die auf den Rundhorizont und diverse Nesselzwischenvorhänge projiziert wurden.

Die Regie wird in Salzburg einen eigenen Ansatz verfolgen, auf Grundlage der vorhandenen Optik. Dafür wurde Vera Nemirova ausgewählt. "Es ist eine Neuinszenierung, aber in einem Raum, der Geschichte geschrieben hat und den wir in die heutige Zeit holen", erklärt die Regisseurin ihre Vorgehensweise. "Ich hoffe, dass wir mit dieser Produktion eine ästhetische und inhaltliche Diskussion anstoßen. Ich glaube, dass der Raum so universell ist, dass er wirklich zeitlos ist, dass die Geschichte, die wir dort sehen und erleben werden, dem standhält."

Ob der Zeitsprung von 50 Jahren funktionieren wird, darüber entscheiden auch die Zeitzeugen. Gut möglich, dass Christa Ludwig und Gundula Janowitz, die Sängerinnen der "Walküre"-Eröffnungspremiere von 1967,2017 als Gäste dabei sein werden. Vielleicht können sie dem Retro-Rezipienten nach dem Schlussakkord erklären, wie viel vom einstigen Zauber übrig geblieben ist. Oder ob nicht unter all den wohlmeinenden Restaurierungsschichten, dem zeitgeistig gleichmachenden Firnis aus Versehen das verloren gegangen ist, worum es geht: das Kunstwerk.