Revolution now! Was Milo Rau, neuer Chef der Wiener Festwochen, plant
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Mit seinem kreativen Leben hält Milo Rau Schritt. Das ist, wenn man sich vor Augen führt, was der Mann alles gleichzeitig zu bearbeiten scheint, nicht ganz einfach. Eine gewisse Atemlosigkeit, die seltsamerweise nicht zur Verflachung der kommunizierten Inhalte führt, wohnt daher auch jeder Konversation inne, die man mit Rau dieser Tage führt. Vor zwei Wochen erst hatte seine Inszenierung „Medeas Kinder“ in Belgien Premiere, am Stadttheater NTGent, das er seit 2018 künstlerisch leitet. Und während er letzte Hand an das Programm seiner ersten Festwochen-Ausgabe legt, bespielte er vergangene Woche auch noch die Eröffnung des St. Pöltner Festivals Tangente mit seiner zweiten Operninszenierung, einer von ihm gemeinsam mit dem in Graz lebenden Schriftsteller Fiston Mwanza Mujila konzipierten, von Hèctor Parra komponierten musiktheatralischen Totenmesse namens „Justice“.
Um einen katastrophalen Lkw-Unfall, der sich 2019 auf einem Marktplatz in der kongolesischen Region Katanga ereignet hatte, dreht sich „Justice“: Der Tanklaster hatte Schwefelsäure geladen, die man für den Kobaltabbau benötigt, das Gift lief aus und tötete erst die mehr als 20 unter dem Wrack Eingeschlossenen, um danach, durch den einsetzenden Regen, ins Umfeld einzusickern und die Landschaft zu kontaminieren. Kobalt wird als zentraler Rohstoff für Smartphones benutzt, „Justice“ handelt also auch von der Verantwortung westlicher Konzerne an solchen von der Welt kaum wahrgenommenen Tragödien.
Triggerwarnungen begleiten Milo Raus Inszenierungen regelmäßig. Als Regisseur geißelt Rau, 47, gebürtiger Berner, seit bald 20 Jahren politische Schadensfälle und kapitalistische Unmenschlichkeit. Und er zeigt, wovon er spricht, in aller Drastik: Ein langes Video vom Unfallort, an dem das Blut der zerfetzten Körper und die auslaufende Säure Rinnsale bilden und in alle Richtungen strömen, verleiht „Justice“ früh brutale Dringlichkeit.
Linksradikaler Demokrat
Seine Empörung über postkoloniale Ausbeutung verwandelt Milo Rau mit den Mitteln des Theaters, des Films, der Oper in künstlerische Anklagen. Einen „Linksradikalen“ nennt er sich, mit selbstironischem Unterton; denn als linksradikal gelte heutzutage jeder, der an das Gute glaube und für eine bessere Zukunft kämpfe, sagte er 2023 in einem Interview mit dem „Standard“. Seine Interventionen zielten darauf, den sich abzeichnenden „faschistischen Realismus“ zu durchkreuzen und demokratisch-parlamentarische Strukturen zu erhalten.
Er mache „globale Kunst“, sagt Milo Rau, und das ist in seinem Fall ausnahmsweise keine eitle Selbstüberschätzung. Denn die Investigativ- und Rekonstruktionsarbeit, die er leistet, führt ihn in Krisengebiete und an Kriegsfronten; er hat zum Völkermord in Ruanda gearbeitet („Hate Radio“, 2011/12) und zum Bürgerkrieg im Kongo („Das Kongo-Tribunal“, 2015), er verschweißt antike Mythen mit der brasilianischen Landlosenbewegung („Antigone im Amazonas“, 2023) und attackiert auf der Theaterbühne und der Kinoleinwand Russlands fatale Kunstfeindlichkeit („Die Moskauer Prozesse“, 2013/14). Milo Rau mischt auf gewagte Weise Kunst und Journalismus, er poetisiert beinhart Recherchiertes; seine Werke sind antikoloniale und antibourgeoise Widerreden, deren metajuristische Grundierung für eigenwillige theatrale Formen sorgt: Er veranstaltet Tribunale, Schauprozesse und Verhöre, in Wien wird er nun auch eine Republiksgründung orchestrieren.
Fünf Wochen lang, bis 23. Juni, werden die Wiener Festwochen, deren Programm am 17. Mai starten wird, die Stadt mit politisch angriffigen Inhalten bespielen, bereits am 7. Mai wird der israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm am Judenplatz eine Art Eröffnungsansprache, eine „Rede an Europa“ halten.
Improvisationstalent
Er habe gerade eine „fiese Zahnoperation“ gehabt, teilt Milo Rau kurz vor dem profil-Interview mit. Wollen wir lieber übermorgen sprechen? Oder in drei Tagen? Man merkt, der Mann ist das Improvisieren gewöhnt, das mag ihm auch zugutekommen in jener Stadt, deren größtes Kulturfestival er, als Nachfolger des vorzeitig ausgeschiedenen, ein wenig unter seinem Wert geschlagenen Belgiers Christophe Slagmuylder, nun führt. Denn in Wien wird gerne skandalisiert, das kriegt Rau gegenwärtig zu spüren. Zwei Eklats ereilten ihn noch vor Beginn seiner ersten Festwochen.
Im Februar hatte er dem umstrittenen russisch-griechischen Dirigenten Teodor Currentzis absagen müssen, nach heftigem Einspruch durch dessen ukrainische Kollegin Oksana Lyniv, die am 2. Juni bei den Festwochen mit dem Kiewer Symphonieorchester Jevhen Stankovychs Kaddish-Requiem „Babyn Jar“ spielen wird. Kommunikationsdefizite habe man sich keineswegs geleistet, beteuert Rau: „Alle waren eigentlich gut informiert. Aber nach Bekanntwerden der Programmierung wurde Druck auf Lyniv und ihr Orchester ausgeübt, was ich in der aktuellen Lage verstehen kann. Die Message an uns war absolut klar: entweder Lyniv oder Currentzis. Das SWR-Orchester wollte Currentzis nicht austauschen, was ich ebenfalls verstehen kann.“ Lyniv werde den Festwochen ein „zentrales Gedenkwerk an den Holocaust“ beisteuern, gemeinsam mit dem ukrainischen Nationalorchester. „Das konnte ich nicht absagen. Ich musste also eine sehr schwierige Entscheidung fällen – gegen Currentzis.“
Es war, dies konzediert Rau, wohl auch ein wenig naiv, zu glauben, dass der kein Wort gegen Putin äußernde Currentzis und Lyniv im pazifistischen Doppelprogramm problemlos zusammengehen könnten. „Aber für mich steht dieser Wunsch, scheinbar unvereinbare Positionen zusammen zu bringen, im Zentrum meiner kuratorischen Arbeit. Ich glaube, dass gerade die Festwochen der Ort gewesen wären, an dem Currentzis etwas zum russischen Angriffskrieg hätte ausdrücken können. Für mich ist es eine verpasste Chance.“
„Israelfeindliche Propaganda“
Im März holte ihn dann die Aufregung um die Berufung der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux und des griechischen Ex-Finanzministers Yanis Varoufakis in den „Rat der Republik“ ein. Denn im Rahmen der Festwochen wird man, auf Basis der Expertise von 100 ausgewählten Persönlichkeiten, die „Freie Republik Wien“ ausrufen, mit Hymne, Flagge und Verfassung, für Klimagerechtigkeit und gesellschaftliche Solidarität. Nun steht Ernaux angeblich der antisemitisch getönten BDS-Bewegung nahe, während Varoufakis in Deutschland wegen „israelfeindlicher Propaganda“ jüngst sogar mit Einreiseverbot belegt wurde. Die hitzige Debatte um die Legitimität der Berufung dieser beiden sei „ins Absurde abgeschwenkt“, meint Milo Rau nun. „Begriffe wurden nur noch als Geschosse benutzt. Das Wort Antisemitismus trifft weder bei Ernaux noch bei Varoufakis im Entferntesten zu. Die beiden kritisieren die Politik vieler Regierungen und Organisationen, unter anderem auch die Politik Israels.“
Ernaux habe lediglich „Briefe unterschrieben, die auch BDS-Mitglieder unterzeichnet haben“. In keinem habe sich auch nur ein einziges antisemitisches Wort gefunden. Und es stimme auch nicht, dass Varoufakis, der das Treiben der Hamas im April noch „bewaffneten Widerstand gegen ein Apartheidsystem“ genannt hat, die Terrororganisation gutheiße. In seiner Berliner Rede vor ein paar Wochen, berichtet Rau, habe Varoufakis die Hamas ganz explizit verurteilt und gemeint, insbesondere der „linke, palästinensische Antisemitismus“ müsse „ausgerottet“ werden. Auch bei dieser Formulierung sehe man, dass Varoufakis gerne „zuspitzt“, und er, Rau, sei „in sehr vielem nicht mit ihm einverstanden. Aber Antisemitismus ist ein Verbrechen, nämlich der Aufruf zur Ausgrenzung und Ermordung von jüdischen Menschen weltweit. Ihn auf Ernaux oder Varoufakis anzuwenden, ist hundertprozentig und absichtlich falsch.“
Man könne sich leider nicht immer aussuchen, mit wem man im Boot sitze, sagt Milo Rau noch – und benennt die Paradoxien, die ihm derzeit entgegenschlagen: „Die Grünen und die SPÖ haben einen Brief im Wiener Gemeinderat gegen die Einladung der Nobelpreisträgerin und Feministin Ernaux unterzeichnet, gemeinsam mit der FPÖ und der ÖVP; sind nun alle Linken Rechte, die Feministinnen Konservative? Wurden die Parteien abgeschafft? Muss ich für den IS sein, weil der Iran gegen ihn ist und ich die Politik des Iran ablehne?“ Im Übrigen seien beim Nahost-Thema Überschneidungen nicht zu vermeiden. „Ich arbeite viel in der französischsprachigen Welt, und in der Kulturszene dort ist BDS omnipräsent.“ Er sehe die Bewegung zwiespältig, sie habe ihm zahllose Kooperationen mit israelischen Künstlern verunmöglicht. Totalboykott halte er aber für falsch, auch gegen russische Kunstschaffende. Jeder Fall sei ein Einzelfall.
Aber Rau scheint gut darin zu sein, den Druck, der auf seine Programmentscheidungen ausgeübt wird, in Energie umzuwandeln. „Ich find' es super, wenn es ein Echo gibt auf die Vorschläge, die ich mache. Ein befreundeter Performer spielte während der Pandemie ein Stück vor der Kamera, erst nach einer Stunde bemerkte er, dass sie ausgefallen war: Er hatte ins Leere gespielt, eine seltsame Erfahrung. Ohne Publikum und ohne dessen Reaktion ist Theater eine dysfunktionale Kunstform.“
Kunst als Gegenkraft
Will er mit künstlerischem Aktivismus auch eingreifen in bevorstehende Wahlprozesse? Gehe es ihm vielleicht auch darum, mitzuhelfen, einen FPÖ-Kanzler zu verhindern? Raus Replik klingt ausweichend: „Die Kunst ist eine Gegenkraft, sie spielt außerhalb des parteipolitischen Feldes. Darin liegt gerade ihre Macht, ihre Versöhnungs- und Sprengkraft. Es ist gut, dass unser demokratischer Staat eine Medien- und eine Kunstmacht hat, durch die die Zivilgesellschaft sich direkter und differenzierter ausdrücken kann als in den parteipolitischen Debatten.“
Die alte Frage, ob man mit Rechten reden solle oder gar müsse, beantwortet Rau dann aber doch erstaunlich direkt: „Natürlich, warum nicht?“ Allerdings komme es immer auf das Format an. „In einer Talkshow, wo jeder den anderen zu überschreien versucht und nur mit vorgefassten Meinungen agiert, ergibt es wenig Sinn.“ In den „Wiener Prozessen“ aber, die er bei den Festwochen abhalten will, werde man „unter Wahrheitspflicht verhört, im Rahmen eines fairen Zeitregimes.“ Da lausche man ungleich genauer hin. „Ich muss eine Meinung, die ich verstehen will, ja nicht zu meiner eigenen machen. Das ist eine falsche Vorstellung von Debatte. Nur weil man den anderen nicht zum Schweigen bringt, hat man noch nicht verloren. Wir müssen wieder lernen zuzuhören.“
Er sei bei den „Wiener Prozessen“, wie Österreichs Regierung, die FPÖ oder die Klimakleber, auch selbst angeklagt, als Intendant der Festwochen. „Ich würde da nicht mitmachen, wenn der Ausgang nicht offen wäre. Das ist ein Format des Zuhörens, des Streits, der Argumente und der Wahrheit – also auch ein gefährliches und riskantes Format. Es ist wichtig, dass wir diesen Raum, in dem auch Verfassungsexperten und Anwälte arbeiten werden, verteidigen und darin tatsächlich alle Meinungen anhören. Was ist schiefgelaufen in der Covid-Zeit? Was bedeutet Antisemitismus heute wirklich? Geht die aktivistische Kunst zu weit? Warum ist die Rechte in Österreich, in Europa so stark?“
Tätertraumata
Mit seinem Festwochen-Programm sucht er auch „andere Perspektiven". Man sehe an der europäischen Israel-Palästina-Debatte, wie wenig diese leider den Betroffenen bringt, wie sehr wir ihr unsere eigenen Tätertraumata – den Holocaust auf der einen Seite und die Verbrechen des Kolonialismus auf der anderen – überstülpen. Wir müssen aufpassen, dass wir im Sprechen über den Globalen Süden nicht bloß unsere eigene Sichtweise durchzusetzen versuchen, wir müssen wirklich zuhören und nicht von Anfang an Sprechverbote erteilen."
Der europäische Geist müsse im 21. Jahrhundert dazulernen und zur Abwechslung einmal zuhören, „so wie die ganze Welt uns 500 Jahre lang zugehört hat. Wir haben ja alles exportiert: vom christlichen Glauben bis zum Expressionismus, von atonaler Musik bis zur Popkultur, alles kommt aus dem Westen. Und jetzt strömen viele Dinge zurück, verwandelt oder völlig neu. Viele Wissensreservoirs stehen für eine postkapitalistische Zukunft bereit: Bei mir war es etwa die brasilianische Landlosenbewegung, von der ich als Linker lernen konnte, wie man Identitätspolitik mit der klassisch marxistischen Idee sozialer Gerechtigkeit zusammenbringen kann. Wie Traumata nicht immer in Konkurrenz zueinander stehen müssen, sondern sich gegenseitig ins Positive verstärken, zur Utopie werden können.“
In Westeuropa werde der Krieg in Nahost primär als Kolonialkonflikt gelesen. „In Mitteleuropa, zu denen Deutschland und Österreich als die beiden Täternationen im größten Genozid der Menschheitsgeschichte gehören, produziert diese Schuld natürlich andere Lesarten. Beide sind richtig und gut, denke ich, sie schließen einander nicht aus. Wir müssen zu einer neuen, inklusiven europäischen Erinnerungspolitik kommen, sonst stehen wir, wie gerade aktuell im Nahostkonflikt, streitend an der Seitenlinie, während Zehntausende Menschen vor unserer Haustür sterben.“
Milo Rau beschwört, wenn er von seiner Arbeit spricht, „einen Ort der Schönheit und des Skandals.“ Rechnet er sogar mit Eklats? Er zitiert, um darauf zu antworten, den französischen Philosophen Jacques Rancière: „Es gibt die Politik und es gibt das Politische." Die Kunst sei eben der Raum des Politischen, in dem Antagonismen, „die scheinbar tragisch unauflösbar und eben skandalös erscheinen, zur Geltung gebracht und verhandelt werden können. Deshalb wurden Tragödie, Theater und Oper erfunden, glaube ich. Die Politik dagegen kümmert sich ums Tagesgeschäft und hat ihre eigenen, strategischen Absichten.“
„Bisschen krass“
„Real-Theater“ nannte Alexander Kluge Raus Arbeitsstil. Dieser selbst hält seine Projekte für „utopische Dokumentationen“, denn „sie protokollieren, was passiert, wenn man eine Utopie real werden lässt. Was wäre, wenn es einen funktionierenden Europäischen Gerichtshof gäbe? Dann könnte man auch transnationale Konzerne vor Gericht stellen. Was wäre, wenn Jesus tatsächlich noch einmal unter uns erscheinen würde – oder Antigone oder Medea? Was wäre, wenn eine Stadt sich zur freien Republik erklärte, in der die Kunst an erster Stelle stünde, wie sich die klassischen Avantgarden das ja vorgestellt haben?“ In seinen Opern, Filmen und Bühnenstücken unternimmt Milo Rau den Versuch, Utopie und Realität in einen Schmelzzustand zu bringen. „Und das ist nicht nur schön, sondern auch ein bisschen krass manchmal.“
Es sei übrigens geplant, die Idee der Republik Wien 2025 fortzusetzen, sie sei „auf fünf Jahre angelegt“. Jetzt finde eben „die Transformation“ statt, eine Verfassung entstehe, danach kommen die Maßnahmenpakete, die in den nächsten Jahren umgesetzt werden sollen. Und dann sagt Rau einen ominösen Satz: „Mal schauen, ob ich dann noch da bin.“ Rechnet er mit derart heftigem Gegenwind, dass er die Festwochen vor der Zeit hinter sich lassen müsste? „Am liebsten würde ich sie für immer leiten, denn Wien ist so verrückt, mein Team ist so cool, es war einfach Liebe auf den ersten Blick. Aber Hybris kommt vor dem Fall.“ In der „Kronen Zeitung“ habe er unlängst gelesen: „der diesjährige Festwochenintendant Milo Rau“. Das habe ihm zu denken gegeben, lacht er. „Wie der Jedermann höre ich so, an der reich gedeckten Tafel sitzend, dumpfes Glockenläuten.“ Lakonischer Nachsatz: „Und so soll es auch sein.“
Volkskultur global: Die Programmlinien und Highlights der Festwochen 2024
Das Debüt des neuen Intendanten Milo Rau verspricht zivilgesellschaftlichen Extremismus und einen wilden Ritt durch das Dickicht politisch-ästhetischer Grenzfragen.
Die Koketterie mit den Bildwelten des „Linksextremen“ in der Werbelinie der Wiener Festwochen ist spürbar: Gesichter, die sich hinter bunten Stricksturmhauben verbergen, sind da allgegenwärtig. Man assoziiert Dissidenz und Revolte: die Zapatisten, Pussy Riot, den Schwarzen Block. Die „Freie Republik Wien“, die Neo-Intendant Milo Rau nun ausruft, sei aber eher „eine Insel des Spaßes, der Liebe und des Streits“. Die Skimasken seien längst auch in die Popkultur eingesickert, meint er im profil-Gespräch: „Wir sind das erste Festival der Welt, das diese Symbolik benutzt, und haben bewusst Farben gewählt, die alle möglichen politischen Strömungen einschließen: Jeder gehört bei uns dazu. Das ist nicht linksextrem, aber zivilgesellschaftlich extrem: Wir schulden der Welt eine Revolution, sonst geht sie unter.“
Kunst aus dem lange deklassierten und ignorierten Globalen Süden wird man, ähnlich wie bei der eben eröffneten Biennale in Venedig, bei den Festwochen 2024 zu sehen kriegen. Man habe „klar dekoloniale Momente“, sagt Rau, setze aber auch auf radikale Relektüre großer Namen und kanonischer Werke. Rau selbst wird Mozarts „La Clemenza di Tito“ und den Medea-Mythos aus dem Blickwinkel der Kinder bearbeiten, Florentina Holzinger knöpft sich Hindemith vor (in ihrer Sex- und Nonnen-Oper „Sancta“), Christiane Jatahy Shakespeares „Hamlet“. Elfriede Jelinek und Peter Brook werden Teil des Programms sein, ebenso Angélica Liddell und Tim Etchells. Und die letzte Regiearbeit des schon jetzt schmerzhaft fehlenden René Pollesch, „ja nichts ist okay", wird auch als Gastspiel zu sehen sein.
Ein Fokus wird auf jüdischem Leben in Europa und der traumatischen Erbschaft des Holocaust liegen. Und Rau wird mit seinem Team eine „Akademie Zweite Moderne“ gründen, um bangen Fragen nachzugehen: „Wo ist die europäische Moderne, die sich antielitär und avantgardistisch öffnen wollte, nicht weit genug gegangen? Wo ist sie eng, selbstbezogen, zu männlich, auch zu lokal geblieben?“ Mit einem Budget von rund 14 Millionen Euro sind die Festwochen eines der größten Crossover-Festivals Europas, als solches „prädestiniert als Experimentierfeld einer neuen, zivilgesellschaftlichen, eben Zweiten Moderne“, meint Rau. „Europas Bürgertum tut ja nur noch elitär, ist es aber längst nicht mehr. Die Gewissheiten sind weg, eine neue Zeit bricht an. Da ist eine globale Volkskultur im Entstehen, das versuchen wir zu verstehen, abzubilden, zu verstärken.“ 100 Jahre nach der Moderne sei die Kunst, vor allem natürlich klassische Musik und Oper, tatsächlich noch immer eine sehr elitäre Angelegenheit. Da steht uns viel strukturelle Arbeit bevor.“
Schätzt er das Wiener Kulturpublikum für revolutionär genug ein, um sein Programm zu goutieren? „Man braucht immer einen Bodensatz an Kenntnis und Tradition, und Wien hat ihn. Man kann nicht im luftleeren Raum Traditionen sprengen, Kunst kommt, wie ich als radikaler Traditionalist leider festhalten muss, von Können. Man muss Mozart, Schönberg, die Musiktraditionen der Luba oder Augusto Boals erst einmal kennen, um deren Vorgaben weiterentwickeln zu können. Wien ist eine hochinteressante Mischung aus ultraavantgardistisch und überall sichtbarer Zeittiefe. Das gibt es, in anderer Weise, auch in Paris oder New York. Aber in Bezug auf die Moderne ist Wien die einzige Weltstadt, in der so etwas wie eine global und zivilgesellschaftlich upgedatete Moderne überhaupt sinnvoll verhandelbar ist.“
Es wird, in anderen Worten, spannend.
Stefan Grissemann
leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.