Die Figur Leni Riefenstahl scheint, wohl auch all ihrer lebenslangen Lügen, Legendenbildung und Manipulationen wegen, ungreifbar zu bleiben. Hatten Sie das Gefühl, sie charakterlich „entschlüsseln“ zu können?
Andres Veiel
Mich hat vieles überrascht, und bisweilen hatte ich angesichts der Dokumente, die wir in ihrem Nachlass fanden, durchaus das Gefühl, in eine Nahaufnahme dieser Frau zu kommen: In den Entwürfen zu ihren Memoiren, die sich deutlich unterscheiden von der veröffentlichten Fassung, finden sich erstaunlich offene Darstellungen ihrer Gewalterfahrungen durch den Vater, den ersten Liebhaber und den ersten Ehemann.
Auch durch Joseph Goebbels offenbar, der ihr sexualisierte Gewalt antat.
Veiel
Ja. Die spannende Frage für mich war aber nicht, ob diese Gewalt ihre Karriere erklären kann, sondern: Was ist der Nährboden des Faschismus? Welche Lektionen führen dorthin? Riefenstahl hatte eine sehr preußische, soldatisch-bürokratische Erziehung erfahren: Druck, Drill, Härte, Tapferkeit. Das schlug voll durch bei ihr. Sie sagte ja auch, der Vater habe sich nicht sie, sondern einen Jungen gewünscht. Dieser Drill führte in die Unterwerfung, zugleich in die Identifikation. Sie sagte über ihren Vater, er habe sie als Kind ins Wasser geworfen, dabei sei sie fast ertrunken – aber nur dadurch sei sie zur guten Schwimmerin geworden.
Sie akzeptiert den Missbrauch, wendet ihn sogar ins Positive.
Veiel
Genau. Sie suchte in der Abspaltung das Heldenhafte, das Heroische. Sie wollte die Schwäche in sich vernichten, die sie verachtete, und projizierte sie nach außen. Das ist eine Grundfigur des Faschismus. Ich habe mich gefragt, inwieweit die Riefenstahl’sche Biografie generationell über sich hinausweist. Was hat sie zu dieser Karriere prädestiniert, als Hitler 1933 zu ihr sagte: „Sie müssen unsere Filme machen“? Zunächst: ihre innere Bereitschaft. Als sie 1932 „Das blaue Licht“ drehte, hatte sie bereits Hitlers „Mein Kampf“ gelesen. Dies hatte sie laut eigener Aussage zur überzeugten Nationalsozialistin gemacht. Es ging mir weniger darum, ihr nachzuweisen, dass sie lügt; das wissen wir. Interessanter fand ich die Frage, wofür ihre Lügen stehen. War die Lüge nach dem Krieg, ohne dies exkulpierend zu meinen – nicht auch ein Teil notwendiger Verdrängung? Sie hat ja stets betont, unpolitisch gewesen zu sein, nur ihre Filme gemacht zu haben.
Genau, ein Leben nur für die Kunst.
Veiel
Klar, das war eine einzige Lüge. Aber die Frage bleibt: Wie weit ging ihre Verstrickung? Es gibt in jeder Recherche ein, zwei zufällige Funde, die alles überstrahlen: Bei uns gehörte dazu jener Brief, der die Ereignisse detaillierte, als Riefenstahl im September 1939 in Polen ein Soldatenbegräbnis drehte. Damals mussten polnische Juden erst die Gräber ausheben, Riefenstahl wurde ungeduldig, weil sie im Weg standen, und sie rief offenbar: „Juden weg!“ Diese Order wurde gebrüllt, die bereits aggressive Stimmung eskalierte, es hagelte Tritte und Schläge, ein Gefangener rannte panisch davon, auf ihn wurde geschossen – und dann schossen alle. Es gab 22 Tote.
Und Riefenstahl erlebte das nicht nur mit, sie hatte es sogar mit ausgelöst. Ein Foto, das sie tränenüberströmt zeigt, belegt ihre Anwesenheit und Verstrickung.
Veiel
Bis 1948 bestritt sie das nie. Sie gab zu, dass sie das alles erlebt hatte. Irgendwann wurde ihr aber klar, dass sie mit dieser Geschichte zur Augenzeugin der ersten Judenvernichtung geworden war. Ab da behauptete sie, dass sie nie dort gewesen sei, das alles nur vom Hörensagen gekannt habe. Ich wollte ihre Schuld deutlich machen – durch sie selbst. Mein Film erzählt also von ihren Prägungen und ihrer Schuld; zuletzt aber auch von der Konsistenz ihrer Ideologie nach dem Krieg. Ich war immer überzeugt davon, dass sie eine Opportunistin und Lügnerin war, aber ich dachte auch, dass sie am Ende ein Stückchen Einsicht gewonnen hatte. In den Telefonaten aber, die sie privat empfing und auf Kassetten aufbewahrte, entsteht ein anderes Bild: Da pflichtete sie einstigen SS-Männern bei, dass „wir alle Idealisten“ gewesen seien;.sie sagt explizit, die Deutschen hätten „die Anlage zu Sitte, Anstand und Moral“, und meint, im „Dritten Reich“ habe es keinen Terror gegen Minderheiten gegeben. Sie betreibt Holocaust-Leugnung.
Alle ihre Filmerfolge hatte sie zwischen 1929 und 1945. Das war ihre große Zeit. verknüpft mit einem Terrorregime.
Veiel
Sie leugnete diesen Konnex. Sie habe nur das Schöne abbilden, nur Dokumentarfilme drehen wollen. Die Schönheit, von der sie sprach, hatte aber eben diese Nachtseite: die Verachtung und Vernichtung des Schwachen und vermeintlich Kränklichen.
Sandra Maischberger initiierte dieses Filmprojekt über Leni Riefenstahl. Sie trat an Sie heran?
Veiel
Genau. Sie hatte sich die Zugriffsrechte auf den Riefenstahl-Nachlass gesichert und mich Anfang 2018 angefragt, um aus den potenziellen Funden einen Kinodokumentarfilm zu machen. Damals wurde der Nachlass gerade erst digitalisiert. Ich wurde mit Zwischenergebnissen gefüttert. Riefenstahl lebte eine Instagram-Existenz, lange bevor es Instagram gab. Sie dokumentierte ihr Leben lückenlos, benutzte Rückschlage, um sich selbst zu heroisieren. Und sie nutzte auch die Schulddebatte für sich – sie betonte ja gerne, sie rede nicht über Politik und nicht über Hitler; und jedesmal kam sie nach 20 Minuten Plauderei über die Nuba und ihre Coffee-Table-Bücher eine Stunde lang auf Hitler zu sprechen. Warum? Weil sie genau wusste, dass dies ihr Alleinstellungsmerkmal war. Sie war, glaube ich, nicht sehr intelligent, denn sie hinterließ Dinge, die sie schwer belasten, aber sie hatte einen genialen Instinkt im Sinne der Selbstvermarktung. Sie war eine gute Taktikerin. Und sie ging mit einem effizienten Mix aus Schauspiel, Zorn und Einschüchterung in die Gespräche, die sie führte.
Riefenstahl hat bis heute erstaunlich viele renommierte Bewunderer – von Jean Cocteau und Andy Warhol bis zu George Lucas und Quentin Tarantino.
Veiel
Weil man ihre Filme auf das Ästhetische reduzieren und diese Bilder feiern kann. Sie war eine großartige Editorin, die in „Olympia“ Turmspringer der Schwerkraft entheben konnte, hatte starken Sinn für Raum und Rhythmus.
Die modernistische Turmspringerszene wird gern zitiert, aber meist wirkt ihr Stil bloß antikisierend, in ihrem Körperkult kitschig und pathetisch – und gar nicht avantgardistisch.
Veiel
Auch „Triumph des Willens“ hat unglaubliche Längen, das hat sogar Goebbels festgestellt, das ist ein einziges retardierendes Marschieren. Starke Momente findet sie vor allem im Totenkult. Riefenstahls Kino ist eben nicht bloß Ästhetik, sondern auch Ideologie: Sie hat für ein Regime Propaganda gemacht, das diese Ideologien in einen Exzess der Vernichtung getrieben hat.
Riefenstahl poetisiert nicht, sie militarisiert.
Veiel
Absolut. Dabei behauptete sie immer, es sei ihr nur um Frieden gegangen.
Über einen Satz im Kommentar Ihres Films bin ich dann doch gestolpert: Sie lassen ihren Sprecher sagen, Österreich sei das erste Opfer des Hitlerterrors gewesen?
Veiel
Mir ist schon klar, dass es Waldheim und viele andere gab, die jene Legende in die Welt setzten.
Es gab in Österreich breiteste Volkszustimmung zum „Anschluss“.
Veiel
Klar. Es gab aber auch diejenigen, die ins KZ kamen oder stillschweigend Widerstand leisteten. Der Satz ist etwas geschichtsverkürzend, das räume ich schon ein. Aber ich habe es in der Verkettung all der Länder, die von den Nazis okkupiert wurden, gesehen.
Halten Sie Riefenstahl für eine Hochbegabte?
Veiel
Die Wirkmächtigkeit ihrer Montage ist enorm, das muss man ihr zugestehen, gerade auch im Gegensatz zu ihren Fähigkeiten als Autorin. Das kann man im Fall ihres Films „Tiefland“ (1940-44) sehen. Es bleibt ein Rätsel, wie Cocteau einen Film mit derart schwacher Figurenzeichnung noch Jahre später preisen konnte. All das, was sie nach dem Krieg produziert hat – und ich habe 25 Drehbuchentwürfe gesehen –, zeigt nur, dass sie keine Autorin war. Sie hätte einen Béla Balázs gebraucht, der ja „Das blaue Licht“ für sie geschrieben hatte.
Wie kann ihre Geschichte unsere Gegenwart erhellen?
Veiel
Der Film ist eine Warnung: wie schnell es gehen kann, wenn diese Sehnsucht nach einer ordnenden Hand aufkeimt; wie schnell die simplen und entlastenden Feindbilder, diese einfachen Erlösungsversprechungen greifen; wie leicht man ausblendet, wohin sie führen: in die Menschenverachtung, die Destruktion.
In die Tyrannei.
Veiel
Deshalb ist diese Geschichte auch 21 Jahre nach Riefenstahls Tod eine Erzählung zur Stunde: Riefenstahls Geist hat ein erschreckendes Nachleben, das sich in neuen Heldenerzählungen und schlichten Hassprojektionen spiegelt. Das halte ich für absolut bedrohlich und real: Erst werden die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten destabilisiert, dann die Verfassungsgerichte. Das erleben wir ja bereits in Teilen Europas. Die Schamgrenzen weichen auf. Heute sind menschenverachtende Inhalte salonfähig, die man vor fünf Jahren allenfalls im Hinterzimmer hätte äußern können. Und diese Dinge finden nicht nur Applaus, sie sorgen auch für massiven Zuwachs an Wählerstimmen. Als ich vor drei Jahren an diesem Film zu arbeiten begann, hatte ich noch leise Zweifel an der Aktualität der Geschichte Riefenstahls. Aber Monat für Monat wurden diese Zweifel leiser: mit dem Ukrainekrieg, mit Donald Trumps irren Äußerungen und dem rechtsextremen Zynismus einer AfD.