Kleiner Dicker, große Nase
Robert Palfrader, 55, ist Kabarettist („Wir Staatskünstler“), Schauspieler („Braunschlag“, „Altes Geld“) und die wohlbekannte ORF-Satiremajestät Robert Heinrich I. („Wir sind Kaiser“). „Kleiner Dicker mit großer Nase“, so lautet Palfraders nonchalante Selbstbeschreibung auf Instagram. Das
Debüt des „Unterhaltungshandwerkers“, trommelt der Verlag. Hinzuzufügen wäre, dass Palfrader ein pfiffiger Sprechkünstler ist, ein Dialekt-Gourmet und Mundart-Jongleur.
In „Ein paar Leben später“ wählt Palfrader allerdings eine Tonlage, die ihre Tücken hat.
Der Ich-Erzähler, dem das Fabulieren und Spekulieren nicht fremd zu sein scheint, verwandelt sich bald in einen bedingungslosen Pragmatiker. Der kühne Fantast, für den man ihn nach seinem Ausflug in die Vorvergangenheit hält, mutiert zum Anekdoten-Dompteur, der die Ereignisse einer Familienchronik aneinanderreiht, ein bisschen sehr verliebt ins Gestern und Vorgestern. Viel historischer Edelrost, die Zeit der tiefsten Vergangenheit. Der Roman als probates Mittel, das kleine Leben in der großen Geschichte zu erzählen, bleibt über weite Strecken bloße Behauptung. „Ein paar Leben später“ ist Familiengeschichte, die sich das Romanmäntelchen überstülpt, was wiederum ein erheblicher Teil des Problems ist.
Stammbäume sind eine praktische Erfindung, die dem verästelten Chaos namens Familie eine zumindest oberflächliche Tarnung von Übersichtlichkeit und Nachvollziehbarkeit verleihen. „Ein paar Leben später“ ist eine Art Prosa-Ahnentafel, samt schematischem Aufbau, nebst manierlich aneinandergereihten Vorfahren-Kurzerzählungen. Und das anfangs
beschworene Hintereinander des schier Undenkbaren? Es soll vorkommen, dass Familieninterna über Jahrzehnte hinweg zu Großerzählungen von Tante und Onkel, Opa und Oma avancieren. Der Spitzen-Suspense für unbeteiligte Dritte ist nicht zwingend. Jede Familie hat ihre Traditionen und Geheimnisse. Im Fall der Palfraders wird es zuweilen unübersichtlich. Sehr viele Leben später.
Verwirrungen und Verwicklungen
Da ist Urgroßmutter Angela, geboren 1882, aufgewachsen im südtirolerischen St. Vigil. Gleichviel, ob Tod und Teufel wüten, Menschen in Jauchegruben ertrinken oder mit von Pferdehufen zertrümmertem Brustkorb kalt in Blut und Stroh liegen – Angela kontert mit ihrem Paradesatz: „Da kann man halt nichts machen, es ist Gottes Wille.“ Urgroßvater Albert, Angelas Ehemann, kommt unversehens zu Geld und wird ebenfalls von Gotteszeichen ereilt. Angela und Albert beten viel miteinander und sorgen in den Rosenkranzpausen für Nachwuchs.
Das Ehegespann Rosina und Josef: die beiden anderen Urgroßeltern des Ich-Erzählers. Rosina ist ein Findelkind, dem Hunde lieber als Menschen sind, das sich später ins maßlose Lesen verlieren wird. Josef wiederum wird 1868 ebenfalls in St. Vigil geboren, entwickelt bald maßlosen Hass jedweder Instanz gegenüber und eine Lust, seine Zeitgenossen niederzukartätschen. Auf den Pfad der Besserung führt Josef, wer sonst, ein robust gebauter Pfarrer mit dem Beinamen „Fleischengel“. Palfrader teilt die nicht gerade schwindlig machende Erkenntnis mit: „Andere Zeiten, andere Sitten.“ Verwirrungen und Verwicklungen unterm Stammbaum, unter dem sich noch allerhand Halbbrüder und -schwestern, Tanten und Onkel, Stiefmütter und -väter tummeln.
Palfrader nimmt seine Figuren ernst, was dem Roman anzurechnen ist. Er verwitzelt keine Lebensläufe, flüchtet sich nicht in Instantironie. Angelas staubiger Katholizismus mag eine bizarre Interpretation unseres Erdendaseins sein, sie hat aber aus Sicht derer, die daran glauben, ihre Logik. Es ließe sich länger über Angelas Geisteszustand, der immer auch ein Heiliger-Geist-Zustand ist, räsonieren, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass für die Urgroßmutter des Ich-Erzählers das Rosenkranzbeten und die Kirchenzeitungslektüre störungssichere Eintrittskarten in das Himmelsreich sind. Palfrader protokolliert die Possen. Er verrät seine Figuren nicht an den billigen Witz.
Wie vom Erdboden verschluckt
Schließlich Großmutter Maria und Großvater Franz, Tochter und Sohn von Angela und Josef. Nicht gerade die große Liebe, eher Alltagsadoration: „Selbst wie er sein Schneuztuch gefaltet hat, bevor er es zurück in seine Tasche steckte, gefiel ihr.“ Mit dem Ehepaar Maria und Franz nähert sich die Erzählung langsam dem Beginn des
20. Jahrhunderts: Franz’ Auswanderung nach Argentinien und dessen Heimkehr nach St. Vigil, der Erste Weltkrieg, die ersten Skitouristenmassen, die Eröffnung von Marias und Franzens „Hotel Belvedere“ im Sommer 1929. Dann der chronologische Schnelldurchlauf in die Unzeit vor und nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland: die Teilnehmer der Jagdgesellschaft im „Hotel Belvedere“ mit den Schmissen im Gesicht. Marias kleine Sprachkunde für die Herrenmenschen, die kein Ladinisch verstehen: „Toffe te le cü. Was wörtlich übersetzt ‚Rieche deinen Arsch!‘, also das Äquivalent zum deutschen ‚Leck mich am Arsch!‘ ist.“ Es folgt der Zusammenprall von Historie und anderen Umständen: „Der Franz las gerade in der Zeitung einen Artikel über die Machtübernahme Hitlers, als ihm die Maria sagte, dass sie schwanger wäre. – ‚Perfekt!‘, dachte sich der Franz.“
Nichts leichter, als Urgroßvater Albert oder eben Großvater Franz als ebenso derbe wie weltfremde Dolomiten-Rednecks zu denunzieren, was Palfrader tunlichst unterlässt, Urgroßmutter Rosina als Personifizierung des ach so armen Findelkinds zu betrauern. Besonders in Rosinas Fall, die als Baby vor der Tür eines kinderlosen Paars abgelegt wurde, erweist sich Palfrader als Chronist mit Esprit: Als die leibliche Mutter nach Jahren ihre Tochter sehen will, sind in der Nacht Lärm und Geschrei im Dorf zu hören, worauf die Kindsmutter wie vom Erdboden verschluckt ist. „Eine Kuh hat gekalbt, war die Erklärung, mit der alle zufrieden waren. Dass sie in diesem Jahr alle Schweine verkauften und kein einziges zum selber Schlachten behielten, fiel niemandem auf.“ Finale Provinzdüsterkeit, in wenigen Worten berichtet. Etwas kommt gewaltig ins Rutschen. Kipp und klar.
Gegen Ende des Romans folgt der Einbruch der Geschichte ins Allerprivateste. Die Zwangsumsiedlung der ladinischen Bevölkerung findet statt, mit politischer Nötigung, die ladinische Identität abzulegen: „Sie sollten einsehen, dass sie Bergitaliener waren, deren Zivilisierung mit Kaiser Augustus begonnen hatte und jetzt abgeschlossen werden sollte“, meldet sich der Ich-Erzähler in alter Frische zurück – um sich sogleich wieder in den Protokollführer einer verflochtenen Familiensaga zu verwandeln: „Sie verkauften das ‚Belvedere‘ und kauften am 15. April 1941 das Hotel ‚Mieslingtal‘ in Spitz an der Donau im heutigen Niederösterreich, das sie am 12. Mai 1941 eröffneten.“
Als TV-Kaiser befahl Palfrader seinen Gästen gern, ein bisschen brav zu sein. In „Ein paar Leben später“ hat er sich allzu sehr daran gehalten.