Bestseller

Schriftsteller Robert Seethaler: Annäherung an ein Literaturrätsel

Während sich der neue Roman des Wieners seit Wochen in den Bestsellerlisten hält, kommt die Verfilmung seines Millionensellers „Ein ganzes Leben“ in die Kinos.

Drucken

Schriftgröße

Vor 20 Jahren stolperte Robert See-thaler als Schauspieler durch „Ein starkes Team“, die TV-Endlosserie um einen Berliner Kriminalkommissar mit lustigem Käppi. Seethaler war der Gerichtsmediziner Dr. Armin Kneissler. „Ich schätze, er hat zwölf bis 18 Stunden im Wasser gelegen, und sehr viel länger ist er auch nicht tot.“ Solche Sätze sagte Dr. Kneissler. In der Episode „Hungrige Seele“ bemerkte Seethaler als Forensiker, er habe seinen Beruf verfehlt.

Die Erkenntnis aus „Starkes Team“, Folge 38, die 2008 erstmals ausgestrahlt wurde, ist zum einen nicht vermessen, weil sie die Wahrheit beschreibt. Zum anderen ist der Wunsch nach dem Berufswechsel wichtig, weil Seethaler die Schublade mit den Fernseh-Standardsätzen endlich schließen und auf Bildschirm-Emotionen verzichten konnte, die man nur mit einigem gutem Willen für echtes Schauspiel halten konnte. Die TV-Zuschauer hat Robert Seethaler inzwischen gegen ein Lesepublikum eingetauscht, das in die Millionen geht.

Nach dem ZDF-Abstecher und etlichen Umwegen nahm eine ziemlich unvergleichliche Erfolgsgeschichte ihren Lauf. Seethaler wurde 1966 in Favoriten geboren, jenem Wiener Bezirk, in dem die meisten Menschen leben, eine Stadt in der Stadt. Der Vater Installateur, die Mutter Sekretärin, der Großvater Teerarbeiter. Robert war schlaksig und einen Kopf größer als seine Mitschüler, im Gesicht eine Brille mit „aschenbecherbodendicken Gläsern“, wie er sich später in einem seiner raren Interviews erinnern wird: „Ich hab 19 und 18 Dioptrien und mehrere Augenoperationen hinter mir.“ Das Schlecht-Sehen, das genaue Hinsehen, der unsentimentale Blick, das sind jene Attribute, die Seethaler früh angeheftet werden.

Er absolvierte eine Verkäuferlehre, jobbte bei der Tageszeitung „Kurier“, schrieb im Sportteil, übersiedelte acht Monate lang auf eine Truthahnfarm in Israel, verkaufte Platten, versuchte sich als Physiotherapeut und Schauspieler. Auftritt Dr. Armin Kneissler. Kurzgastspiele in „Die Knickerbocker-Bande“, „Der Winzerkönig“ und im Kinofilm „Ewige Jugend“ als Bergsteiger Luca mit wolligem Bart und kehliger Verführerstimme. 2004 absolvierte Seethaler in München eine Drehbuchwerkstatt. Aus dem ersten Drehbuch entstand „Die Biene und der Kurt“ (2006), sein erster Roman. Im Zweijahrestakt folgten die Romane „Die weiteren Aussichten“ (2008), „Jetzt wird’s ernst“ (2010), „Der Trafikant“ (2012) und „Ein ganzes Leben“ (2014).

Seethalers jüngster Roman „Das Café ohne Namen“ hat sich seit Wochen in den Bestsellerlisten festgesetzt: ein Buch als sprichwörtliches Kammerspiel, angesiedelt im grauen Wien des Jahres 1966. Der Arbeiter Robert Simon eröffnet am Karmelitermarkt sein eigenes Kaffeehaus, das für viele zur Rettungsinsel wird. Simon ist „einsam in der Welt, einsam in seiner eigenen Haut“, was er mit vielen Seethaler-Helden teilt.

Literaturwunder

Dazu erreicht diese Woche die Verfilmung von „Ein ganzes Leben“ die Kinos. „Ein ganzes Leben“, der fünfte Roman des Schriftstellers, erschien vor neun Jahren. Das Buch wurde im deutschsprachigen Raum weit über eine Million Mal verkauft, in 40 Sprachen übersetzt und 2016 für den Booker Prize International, eine der weltweit wichtigsten Literaturauszeichnungen, nominiert. Dieser „Jahrhundertroman ist ein kleines literarisches Wunder“, jubelte noch 2018 ein Rundfunkjournalist der „Deutschen Welle“.

„Ein ganzes Leben“ erzählt von Grenzerfahrungen und Naturgewalten, die Seethaler kühl unterspielt: Das Prinzip der Einfachheit ist in diese Prosa tief eingesenkt. In Seethaler-Romanen stirbt man jäh, ohne viel Aufhebens. Die Liebe kommt und geht. Wie soll man nach dem Ende neu anfangen? Am besten mit dem Schlimmsten.

Der Roman „Ein ganzes Leben“ beschreibt, was die Zeit mit Landschaften und Menschen anstellt, was sie mit dem Dasein des Bauernkinds Andreas Egger macht, in dem Momente des Verlorenseins und des Sekundenglücks einander abwechseln.

Der Film „Ein ganzes Leben“ von Regisseur Hans Steinbichler entfaltet einen Reigen mittlerer bis großer Dramen in fast schon unanständig pittoresker Kulisse, in der Männer Walross-Schnurrbärte tragen und Frauen ätherische Wesen sind. Selbst die Berge und Schluchten wirken in dieser Bilderbuchlandschaft, als stammten sie aus der Requisitenkammer. In dieser tief im Gestern verfangenen Filmwelt teilt sich die Zeit in Heuernte, Schnapstrinken und romantisches Berggipfelglotzen. Die Welt vor der Haustür und hinter den sieben Bergen.

Ich halte mich ganz gern im Verborgenen. Bei Lesungen in Hamburg, Köln oder Berlin sitzen oft 1000 Menschen in einem Raum zusammen. Keiner kennt den anderen. Und genau das ist ja das Schöne: Man ist neugierig aufeinander. Im besten Falle entsteht eine Atmosphäre staunender Offenheit.

Möglichste Distanz hält auch Seethaler zu den Medien. Er hat seine eigene Art, Presseanfragen zu entkommen. Seethaler lässt über eine freundliche Mitarbeiterin seines Berliner Verlags mitteilen: gern ein paar Fragen und Antworten via E-Mail, kein Wort zur „Ein ganzes Leben“-Verfilmung, über Politisches schon gar nichts. Reden wir also über Seethalers Schreibanfänge, als er knapp 40 war. Sprechen wir über Thomas Bernhard, der behauptete, wer es mit 35 nicht geschafft habe, dem sei nicht zu helfen. „Ich denke, es ist völlig egal, wann man anfängt, Hauptsache, man macht es“, schreibt Seethaler zurück: „Gerade im Anfangen liegt eine große Kraft. Thomas Bernhard wusste das sicher. Er hat aber eine Menge gesagt, ohne selbst danach zu leben. Ich schreibe, weil ich die Bilder und Gedanken, die mich beständig anwehen oder bestürmen, irgendwie bannen will. Und das alles sage ich jetzt nicht nur, um Ihnen eine Antwort zu geben. Denn eigentlich will ich gar nichts beim Schreiben. Man sollte über diese Dinge nicht nachdenken, sondern einfach arbeiten.“

Als Schauspieler sprach Seethaler seine Sätze scharf akzentuiert in Kameras. Als Schriftsteller ist ihm das Umkreisen und Hinterfragen viel näher. „Der stille Star der Literaturszene“, noch so ein Attribut, das Seethaler gern zugeschrieben wird. „Es gibt in dieser Welt Wichtigeres, worüber ich mich ärgern könnte“, lässt er aus Berlin wissen: „Niemand, der so etwas schreibt, kennt mich wirklich. Macht nichts, wie denn auch? Ich halte mich ganz gern im Verborgenen. Bei Lesungen in Hamburg, Köln oder Berlin sitzen oft 1000 Menschen in einem Raum zusammen. Keiner kennt den anderen. Und genau das ist ja das Schöne: Man ist neugierig aufeinander. Im besten Falle entsteht eine Atmosphäre staunender Offenheit.“

Ist sein Schreiben der Versuch, die Welt zu begreifen? „Ich möchte gar nicht zu viel begreifen“, lässt Robert Seethaler wissen: „Schönheit und Schrecken liegen ja eher im Unbegreiflichen. Und das ist ja gerade das Interessante an der Arbeit und am ganzen Leben: Nichts wissen – und trotzdem weitergehen. Schreiben ist für mich ein langsames, tastendes Voranschreiten ins Unbekannte. Du weißt nie, was kommt. Was verbirgt sich hinter dem nächsten Wort? Welches Bild taucht als Nächstes auf? Du weißt nicht, wohin dich der Weg führt. Es ist eine absichtslose Arbeit.“

Terrain des Spurenlesens

So gut wie alle Romane Seethalers sind in der Vergangenheit angesiedelt. „Der Trafikant“ erzählt vom naiven Landei Franz Huchel zur Zeit des Nationalsozialismus in Wien, der Sigmund Freud als väterlichen Freund gewinnt. In „Das Feld“ (2018) lässt Seethaler die Toten auf einem Friedhof miteinander reden. Den Komponisten Gustav Mahler beobachtet der Autor in „Der letzte Satz“ (2020) eine ausgedehnte Schiffsreise lang. Versucht Seethaler in seinen Romanen, das Verlorene über die Zeit zu retten? Wie findet er seine Stoffe? „Zeit und Ort sind im Grunde austauschbar. Sie sind für mich wie ein pastellig hingetupftes Bühnenbild im Hintergrund des eigentlichen Geschehens: des menschlichen Dramas in der Bühnenmitte. Um nichts anderes geht es. Ich bin viel mehr an Geschichten interessiert als an Geschichte. Schließlich will ich keiner Wirklichkeit hinterherschreiben, die es so ohnehin nie gegeben hat. Du solltest beim Schreiben schon deine eigene Wirklichkeit erschaffen.“

Es gibt kein Bestsellerrezept, kein Nachschlagewerk verbindlicher Literaturgebote. Wendet man sich dem Phänomen Bestseller zu, betritt man das Terrain des Spurenlesens und des Vagen. Wie oft wurde er schon nach seiner Bestsellerformel gefragt? „Wer zu viel Kontrolle ausüben möchte, verliert sich selbst. Formeln haben in der Literatur nichts verloren, zumindest nicht in meiner. Es ist schön, dass ich mit dem Erfolg auch ein ökonomisch gutes Leben führen kann, darüber hinaus sind Bestsellerlisten uninteressant. Im Grunde habe ich beim Schreiben nur einen Leitspruch: Folge deinem Interesse! Ich denke auch nicht in Kategorien wie U und E. Was bei der Arbeit zählt, ist der Augenblick. Wort, Bild, Geschichte. Alles andere ist zweitrangig. Interessanterweise haben meine Bücher international einen ganz anderen Stellenwert.“ In Frankreich und England zählt Seethalers Prosa zur Hochliteratur. In den Regalen der Buchhandlungen steht sie zwischen Kafka und Stefan Zweig. Ein starkes Team.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.