Virginie Despentes

"Liebes Arschloch" von Virginie Despentes: Faust in die Fresse

Virginie Despentes ist der Punk-Star der französischen Literatur. In ihrem E-Mail-Roman "Liebes Arschloch" wettert sie fröhlich gegen Mobbing und Machtmissbrauch. Eine Annäherung als fiktiver Online-Dialog zwischen Despentes-Hater und Virginie-Lover.

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In "Liebes Arschloch" prallen Welten aufeinander. Das Arschloch ist der Mittvierziger Oscar Jayack, ein aufstrebender Autor, der sich als Opfer der #MeToo-Bewegung wähnt, seit Zoé Katana, einstige Mitarbeiterin seines Verlags, öffentlich gemacht hat, wie ungustiös er ihr nachgestellt hatte: "Feed zu meiner Faust in deiner Fresse". Das Romantrio wird durch die fiktive Schauspiellegende Rebecca Latté komplettiert, die Oscar nach einer Instagram-Entgleisung als "Arschloch" beschimpft: "Du bist wie eine Taube, die mir im Vorbeifliegen auf die Schulter kackt. Das ist dreckig und sehr unangenehm. Fiep, fiep, fiep."

Das ist kein Dekolleté mehr, sondern ein Gottesbeweis.

Virginie Despentes in "Liebes Arschloch"

Despentes, 53, bleibt ihrem mit der "Vernon Subutex"-Trilogie redlich verdienten Ruf als radikale Zeit-Mitschreiberin treu. Hungrig wie die sprichwörtliche Wölfin frisst sich die Bestsellerautorin durch das Tableau aktueller Themen, großmäulig und mit sympathischem Scheiß-drauf-Gestus: #MeToo und Feminismus, Drogen und Alkoholismus, Shit-und Candystorms, Mobbing und sexuelle Übergriffe. Die Gegenwart als Gruselkabinett verschlungener Gänge. Despentes macht wie immer einen Knochenjob.

Über 300 Seiten hinweg beschimpfen und beflegeln einander Oscar, Rebecca und Zoé in diesem Online-Briefroman, an dessen Ende nicht Hass und Hetze stehen, sondern zögerliches Miteinander. Ein Roman eben-und nicht die Wirklichkeit der virtuellen Jagdgründe anno 2023 mit ihren Troll-Truppen und Geifer-Geschwadern. Eine Annäherung an "Liebes Arschloch" als fiktiver E-Mail-Dialog zwischen Hater und Lover der Autorin.

- Von: Despentes-Hater

Ach, immer alles in Großversion. Premium-J'accuse! Despentes geriert sich einmal mehr als ausgebuffte PR-Agentin ihrer selbst: enfant terrible des französischen Literaturbetriebs! Tausendmal gelesen, tausendmal gehört. Mit ihrer zum Kikeriki neigenden Literaturstimme, die sie gern als ungestümes Wuchtorgan verkauft, notiert sie in diesem sogenannten Roman, der in Wahrheit ein einziges Stimmenschnattern in extenso ist, die Endlossuada ihres Dreiergespanns, in dessen Schatten sich die eine oder andere papierene Figur tummelt: Oscar und Rebecca haben eine gemeinsame Vergangenheit-Rebecca wiederum fühlt sich Oscars großer Schwester verbunden. Oscars erster Feed (der zugleich den "Roman" eröffnet) lautet: "Habe Rebecca Latté gesehen, in Paris. Sofort sind in meiner Erinnerung alle Frauenfiguren aufgeploppt, die sie gespielt hat, gefährliche, toxische, verletzliche Frauen, berührende, auch heroische-wie oft habe ich mich nicht in sie verliebt, wie viele Fotos von ihr habe ich nicht in wie viele Wohnungen über wie viele Betten aufgehängt, wo sie mich zum Träumen gebracht haben." Dann die Attacke aus dem Nichts: Rebecca, schreibt Oscar, sei inzwischen zu einer "Schlampe verkommen": "Nicht nur alt. Sie ist auch auseinandergegangen, verlebt, schlechte Haut, ein schmuddeliges, lautes Weibstück."Nach diesem reichlich konstruierten Auftakt entwickelt sich immerhin ein halbwegs munteres Hin und Her zwischen Oscar und Rebecca, ein E-Mail-Pingpong von Gedanken, Anschauungen, Ideen und halbherzigen Zwischendurch-Angriffen. Wenn es stimmt, dass Autorinnen und Autoren im Alter immer besser werden, dann hat Despentes dieses Ziel mit "Liebes Arschloch" um Eckhäuser verfehlt.

- Von: Virginie-Lover

Bitte lesen lernen, lieber Despentes-Hater! Rebeccas Antwort auf Oscars Instagram-Eröffnungsrülpser hallt in diesem unterhaltsamen Roman, der in Summe viel mehr ist als seine einzelnen Stimmen, lange nach: "Ich hoffe jetzt nur, dass deine Kinder von einem Lastwagen überfahren werden und du ihren Todeskampf mitansehen musst, ohne etwas tun zu können, und dass ihnen die Augen aus den Höhlen spritzen und ihre Schmerzensschreie dich jeden Abend verfolgen. Das ist das Einzige, was ich dir wünsche." Touché! Despentes unterläuft die schale Steigerungslogik, der Sie, geehrter Hater, so innig anhängen: immer noch kantigere Holzscheite in das lodernde Feuer Ihres Troll-Jähzorns! Punchlines und blindwütig hinausposaunte Statements! Nicht jede Angelegenheit eignet sich aber anstandslos zum Rumbrüllen und zur Dreckschleuderei. Romanfiguren (und Menschen) geraten zuweilen ins Grübeln, wenn sie ihr Herz auf der Zunge tragen. Einmal kein Schwarzweiß. Zoé erobert sich mit einer gewissen Grimmigkeit die Erkenntnis, dass es in der Frauenbewegung Frauen jeder Art gebe: "Nervensägen, dumme Kühe, Idiotinnen und Genies". Im selben Atemzug schreibt sie, dass die "Maskulinisten" den Feministen in den sozialen Netzwerken den Krieg erklärt hätten: "Twitter ist schuld. Facebook ist schuld. YouTube ist schuld. Instagram ist schuld."Despentes fädelt Oscars Mobbing-Fall, den er anfangs reflexartig abstreitet("Man tut so, als hätte ich auf das Grab von Simone Veil gepinkelt"),geschickt auf: Sie lässt die Fakten ausfransen-und die Spekulationen wuchern. Es gehört zum Wesen jeder Rekonstruktion, dass man irgendwann an den Punkt gerät, an dem die Fragen mehr und die gesicherten Antworten weniger werden. Rebecca schreibt an Oscar: "Ich will das Opfer nicht heiligsprechen. Natürlich lügen Frauen manchmal." Bevor Oscar selbstgefällig seinen Senf dazugeben kann, deklariert Rebecca: "Aber der Prozentsatz der Märchenerzählerinnen unter den Opfern ist klein, während der Prozentsatz der Vergewaltiger in der männlichen Bevölkerung euch eine Warnung sein sollte, wie schlecht es um eure Sexualität steht." Wenn es einen Ort für Ungewissheiten gibt, dann ist es jener Winkel, der für sich beansprucht, die ganze Wahrheit darzustellen. Despentes leuchtet dieses Halbdunkel nach Möglichkeiten aus. Sie zerlegt den Unter-und Überbau drängender gesellschaftlicher Debatten in verdauliche Portionen. Je länger man sich den verbalen Scharmützeln von Oscar, Rebecca und Zoé aussetzt, desto größere Risse tun sich auf.

- Von: Despentes-Hater

Nicht sehr geehrter Virginie-Lover, es gibt eine hübsche Erzählung von Roald Dahl, in der eine Familie namens Trottel ihr Unwesen treibt. Genauso unsauber argumentieren Sie hier, Sie Trottel. Rebecca mit ihrem Bling-Bling-Lifestyle ist keine glaubwürdige Figur, weil sie immer so spricht, als bräche sie zu einem Galadinner auf, wo sie einst übrigens einem gewissen Mister Weinstein über den Weg lief: "Jahrzehntelang war Weinstein in dieser Welt der King", schreibt sie an Oscar: "Ich habe nicht nur gesehen, wie Mädchen sich prügelten, um in seine Nähe zu kommen, sondern auch, wie Verleihfirmen Minderjährige ins Rennen schickten." Das bleibt unkommentiert stehen. Dann die Drogen und der Alkohol, von denen der Roman erzählt: Die vielen Rauschmittel, die sich Rebecca und Oscar reinjagen, entsprechen mindestens der Jahresproduktion einer Whisky-Fabrik im schottischen Hochland beziehungsweise der Ernte einer gigantischen Koka-Plantage im Südwesten Kolumbiens. Völlig unglaubwürdig! Dazu das unbeirrte Geschwätz und Dauergrübeln über Kokslines und Komasaufen! Despentes will Kolorit liefern, verirrt sich jedoch im Immergleichen. "Wegballern" ist Rebeccas inflationär gebrauchtes Wort für ihre drogeninduzierten Zustände jenseits von Gut und Böse. Wegballern! Man kommt auf Ideen.

- Von: Virginie-Lover

Humor, Hater! Versuchen Sie's doch einmal damit! Die Rebeccas sind in der Literatur selten. Nur kurz dazwischengefragt: Warum sich nicht an einer prächtig überzeichneten und zu groß geratenen Figur wie Rebecca freuen, die im Bassenatratsch-Sound viel über bestimmte Milieus zu berichten weiß? Rebecca fordert eine "Erste-Klasse-Metro", eine ihrer Wegballer-Weisheiten lautet so: "Das Einzige, was neben meiner hübschen Fratze auffällt, sind meine monumentalen Brüste. Wie gotische Kathedralen. Möglich, dass man in hundert Jahren noch davon spricht. Das ist kein Dekolleté mehr, sondern ein Gottesbeweis." Despentes lässt die Koordinaten durcheinanderrutschen für das, was eine Figur gemeinhin äußern darf. Eingepreist ist da, dass Rebecca bisweilen wie ein Baby nach ihrem Suchtgift-Schnuller schreien und Oscar ungestraft Dümmliches hinschreiben darf: "Jeder ist Kind seiner Zeit. Früher haben die Mädchen Frauenzeitschriften gelesen, in denen es um Fashion Weeks und Diäten ging, heute lesen sie feministische Accounts." Das ist die Stärke von Despentes: Sie schlüpft in verschiedene Rollen, gerade auch in jene, die ihr zutiefst verhasst sein dürften.

- Von: Despentes-Hater Unsinn! 

Despentes referiert mit erhobenem Zeigefinger. Statt Bildern entwirft sie Zerrbilder. Es ist, als hörte man drei mit Sedativa auswattierten Hirnen beim lauten Denken zu.

- Von: Virginie-Lover

Sätze wie Ohrfeigen! Etwa jener von Zoé über die "Mickriganten", womit die männlichen Online-Hetzer-Kolonnen gemeint sind: "Sie wissen, dass sie völlig unwichtig sind. Dass sie nichts wert sind. Dass sie krepieren sollten wie die Kakerlaken. Sie sind in Panik vor ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit. Sie wissen, dass sie zu nichts nütze sind, sie krabbeln durch die Dunkelheit und stoßen an Wände. Ein verdammtes Häufchen Scheiße, total widerlich, und zum ersten Mal durchschaue ich ihre Nachrichten: Sie wissen, sie werden daran krepieren."

- Von: Despentes-Hater

Reiner Wegballer-Wortschwall.

- Von: Virginie-Lover

Ende gut, nichts ist gut. Rebecca umschmeichelt Oscar im Finale als "Häschen", wechselt vom "Arschloch" zum Liebkosen. "Häschen" kommt hier niemandem über die Lippen, der Klügere gibt nicht nach. Dennoch bald auf ein Bier?

Von: Despentes-Hater

Meinetwegen. Der Klügere bin und bleibe ich.

Virginie Despentes: Liebes Arschloch

Virginie Despentes: Liebes Arschloch

Aus dem Französischen von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis. Kiepenheuer& Witsch. 332 S., EUR 24,70

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.