"The Shards" von Bret Easton Ellis: Scherbenhaufen
Man muss sich Bret Ellis als nah am Irrsinn gebaute Version von Bret Easton Ellis vorstellen. Die Namensähnlichkeit in "The Shards" ist nicht zufällig: Das neue Buch des amerikanischen Autors ist eine Art autobiografisch angehauchter Parallelslalom von juvenilem Protagonisten und prominentem Pop-Poeten. Bret meets Bret im Roman "The Shards", der wie Ellis' Slasher-Klassiker "American Psycho" (1991) in der deutschen Übersetzung seinen englischsprachigen Originaltitel behalten durfte. Die Scherben also. Etwas geht hier zu Bruch.
Ellis, 1964 in Los Angeles geboren, schickt sein 17-jähriges Alter Ego auf die südkalifornische Privatschule Buckley, ein Dorado für Kinder betuchter Familien, die in palastartigen Domizilen ihre Luxusautos zählen. Unter einem Himmel von zerfließendem Blau werden von Buch-Bret im Niederenergiemodus Apathie und Abgestumpftheit zelebriert, ein Leben in nie enden wollender Reality-Soap-Manier, mit allen Höhen (mithilfe von Quaaludes, Koks und ausschweifendem, explizit dargestelltem Sex) und Tiefen (Valium und Bierräusche): Ellis' berühmte edelmatte Spannung, die einem beim Lesen über die bescheidene Zeichnung des historischen Hintergrunds mit Ausnahme der fast lückenlosen Popsong-und Kinofilmkulisse und den farblosen Figuren hinweghilft. Der junge Bret will Schriftsteller werden und widmet sich in den seltenen Momenten der Klarheit einem Manuskript, das Jahre später unter dem Titel "Unter Null" als Roman erscheinen wird. Eines Tages taucht in Buckley ein neuer Schüler auf. "Ich vermutete nahezu augenblicklich, dass mit Robert Mallory etwas nicht stimmte", notiert Ellis auf Seite 120 des Romans. Die restlichen 600 Seiten von "The Shards" widmet der junge Bret manisch seiner Robert-Recherche, in der Blut und Gedärm Hauptrollen spielen: "Aber es war nur ein Gefühl. Ich hatte keine Beweise."Robert wird Brets persönlicher Scherbenhaufen.
Um die Fallstricke des anschaulich abgeschlossenen Erzählens hat sich Ellis nie großartig gekümmert, vielmehr die drogenumwölkte Orientierungslosigkeit seiner Helden in den Mittelpunkt gestellt. In "The Shards" erweist sich der Autor einmal mehr als Rhapsode des Beinahe-Stillstands, als Ästhet der Gefühlsstumpfheit.
"The Shards" ist Ellis' siebter Roman, der immer wieder so wirkt, als sei seit dem Erscheinen von "Unter Null" (1985),dem Debüt des damals 21-Jährigen, kaum Zeit vergangen. Die Elvis-Costello-Poster hängen noch immer in den Zimmern, Ultravox steuert mit "Vienna" den Soundtrack bei: "It means nothing to me, this means nothing to me." Alles scheißegal. Zumindest fast alles. Ob er eine Wayfarer-, Vuarnet- oder Porsche-Carrera-Sonnenbrille trägt, macht für Bret einen himmelweiten Unterschied, genauso die Frage, welches Auto er fährt.
Der Roman berichtet von Sommer und Herbst 1981 als einem Spiel auf der Schattenseite, als Thriller, als ein Stück US-Populärgeschichte, durch die ein Massenmörder namens "Trawler" geistert, benannt nach einem Fischereiboot. Die Ellis-Brutalitätsorgien -Methode 2023 geht in Kurzform so: Der Trawler stopft in die Körperhohlräume seiner weiblichen Opfer zuvor entwendete Zierfische und finalisiert die Folter mit Montagekleber und anderen schrecklichen Verstümmelungen. Ausgestochene Augen, verweste Leichname, enthauptete Koi-Fische, ausgeweidete Katzenkadaver und eine bizarre Sekte komplettieren dieses Tableau des Grauens. Wie ein überdrehter Prosa-DJ steht Ellis an den Tortur-Turntables und findet kein Ende bei der Detailgenauigkeit und Redundanz des erzählten Entsetzens. Das Durchdeklinieren des Gegensatzes von blutsudeliger Grellheit und dem Alltags-Ennui der Freundesgruppe um Bret reizt sich jedoch bald aus. Das sonnige Los Angeles und die finsteren Wahrheiten, die Leiche im Pool und das ostentative Desinteresse für den Ermordeten, der "paradiesische Sommer" 1981, wie Ellis im Roman wiederholt betont, mit anschließendem Horror-Herbst: "The Shards" platzt nicht selten aus allen dramaturgischen Nähten.
Als Buch im Buch ist "The Shards" konzipiert, in dem sich ein Autor in seinem Arbeitszimmer an sein 40 Jahre jüngeres Selbst zurückerinnert. "Und das Image des Fürsten der Finsternis, das ich in den Augen der Leser als Schriftsteller stets verkörpert hatte, verflüchtigte sich jetzt, und an seine Stelle trat ein sonnigeres Gemüt",notiert der Schriftsteller an seinem Schreibtisch in West Hollywood: "Der Mann, der 'American Psycho' geschrieben hatte, war zur Überraschung so mancher nur ein netter, womöglich sogar liebenswerter, leicht abgewrackter Typ." Die thematische Verschränkung mit dem älteren Autor, der sich an sein juveniles Ich erinnert, bleibt jedoch weitgehend leere Behauptung: Über weite Strecken erschöpft sich "The Shards" in weitschweifigen Rückblicken auf eine Welt mit Anrufbeantwortern, Musikkassetten und MTV-Kabelfernsehen.
Die totgerittene Metapher vom Leben, das sich zuweilen wie ein Film anfühle, verwendet Ellis übrigens nahezu inflationär: "Ein Stummfilm lief in Zeitlupe ab." - "Wir waren uns bewusst, dass wir uns alle in ein und demselben Film befanden". - "Die Verbrechen, durch die ich mir wie in einem Film vorkam." Der Roman "The Shards" ist die dazugehörige Popcorn-Poesie.