Roman über die Selbstverbrennung eines Atomgegners
Der neue Untermieter bringt die Verhältnisse zum Tanzen. Der Anti-Atom-Aktivist Hartmut Gründler lebt ab 1975 zwei Jahre lang im Haus der Kelsterbergs - bald ist Gründler tot und die Tübinger Familie zerschlagen. Der Roman "Ein Mensch brennt" des Berliner Schriftstellers Nicol Ljubić mischt unter historisch verbürgte Figuren - neben Gründler etwa SPD-Bundeskanzler und Atom-Befürworter Helmut Schmidt - die erfundene Familie Kelsterberg: Vater Kurt, der begüterte Mittelständler, der gern in seinem Auto dahinprescht und die aufkeimende Ökologie- Bewegung als Spinnerei abtut; Sohn Hanno, der mit seinen zehn Jahren in eine ihm fremde Welt blickt, und Mutter Marta, die aus dem Sperrbezirk deutscher Biedermenschen ausbricht.
Hartmut Gründler, ein früher wutbürgerischer Umweltkämpfer, verbrannte sich aus Protest gegen die Atomindustrie selbst: Am 16. November 1977, dem evangelischen Buß- und Bettag, überschüttete sich der 47-Jährige in der Hamburger Innenstadt, wo zur selben Zeit die SPD ihren Parteitag abhielt, aus einem schwarzen Fünfliterkanister mit Benzin, die Ärmel des Wintermantels mit Zeitungspapier ausgestopft, und zündete sich selbst an. Nach fünf Tagen Bewusstlosigkeit, ohne Haut und Haar, starb Gründler an den Folgen seiner schweren Verletzungen. Bis über seinen Tod hinaus verschrieb er sich rigoroser Wahrheitsliebe und verblendetem Fanatismus: Als letzten Wunsch ließ sich Gründler Helmut Schmidts Buch "Als Christ in der politischen Entscheidung" auf den Sarg nageln.
"Ein Leben für die Wahrheit, ein Tod gegen die Lüge": Mit diesem Aperçu wird seit vier Jahrzehnten die Erinnerung an Hauswänden und auf Gründlers Grabstein wachgehalten. "Ein Mensch brennt" ist das Denkmal für den Weltverbesserer und Gandhi-Anhänger, der die Lehren des Genies der Gewaltlosigkeit bestürzend missdeutete. "Der Mensch zünde sich nicht im Verborgenen an, er suche das Publikum und bekomme seine letzte absolute Aufmerksamkeit", zitiert Ljubić im Roman eine Studie über die Selbstverbrennung, die wohl schmerzvollste Art des Suizids: "Er glühe auf und verglühe zugleich. Wie eine Sternschnuppe." Für Gründler, der die Lügen der Atomindustrie wortreich publizistisch bekämpfte, war sein Feuertod "eine Notwendigkeit".
Idealismus und Schwarzseherei
Ljubić, 46, erzählt keine Heldengeschichte. Er nähert sich Gründler nicht auf den Schleichpfaden des Psychologischen und Moralischen. Die Feldzüge des Bürgerrechtlers beschreibt der Autor als verhedderten Knäuel aus Idealismus und Schwarzseherei. Als amibivalente Mixtur aus Zukunftsangst und Zuversicht. "Hartmut sah sich als Soldat im Krieg gegen die Atomlobby", notiert Ljubić: "Und seine Entschlossenheit war in Wahrheit eine unglaubliche Eitelkeit, eine Selbstgefälligkeit."
Gründlers Leben und Sterben entfaltet Ljubić mittels eines effektvollen Kniffs: Icherzähler Hanno erinnert sich aus der Distanz von Jahrzehnten an seine Kindheit in den 1970er-Jahren, im langen Schatten von RAF, Öko-, Emanzipations- und Grün-Bewegung, "Brigitte"-Diät, "Atomkraft? Nein, danke"-Ansteckern und "Ohne Kernenergie sicher zurück ins Mittelalter"-Plakaten. Wer sein Haar schulterlang trägt, macht sich verdächtig; der Samstagabend gehört der "Sportschau", und sonntags filmt Papi mit der Super-8-Kamera; es war die Zeit, als der deutsche Fußballmeister noch 1. FC Köln hieß, Klaus Fischer 1977 sein Jahrhundert-Fallrückzieher-Tor schoss, Lesezirkel, Bürgerinitiativen und Frauengruppen gegründet wurden - und in Wien neun Vorarlbergerinnen vor dem Bundeskanzleramt gegen das geplante Atomkraftwerk Zwentendorf in den Hungerstreik traten.
Diese Welt von gestern erscheint Hanno in "Ein Mensch brennt" als eine Epoche rätselhafter Geschehnisse, Rituale und Regeln, die bis in die Tiefenschichten der Gegenwart fortwirken: "Ich spürte, dass etwas passiert war im Leben meiner Familie, etwas Ungeheuerliches, aber welche Auswirkungen es haben würde, ahnte ich damals natürlich nicht. Und mit welchen Schmerzen es für jeden von uns verbunden war - seelische Schmerzen im Gegensatz zu den körperlichen, die Hartmut ertragen haben musste." Ljubić meidet historische Besserwisserei. Er polstert die Erzählung nicht mit Erinnerungskitsch aus, bleibt nah an seinem Thema -statt sich in die wohlfeile Beliebigkeit ironischer Distanz zu flüchten. Hannos Welt besteht nicht aus Opfern und Tätern: "Wie viele Verletzte verträgt der Kampf für das Gute? Wie viele Tote lassen sich rechtfertigen? Einen habe ich gesehen, damals mit zehn, und der hat mir gereicht."
Nicol Ljubić: Ein Mensch brennt. dtv, 333 S., EUR 20,60