Roschdy Zem: "Ich bin weißer als alle anderen"
profil: Wie recherchierten Sie den historischen Hintergrund für „Monsieur Chocolat“? Nahmen Sie nur Gérard Noiriels Biografie als Basis? Wie frei fühlten Sie sich da? Roschdy Zem: Ich habe das Drehbuch, das ja schon existierte, aus meiner Perspektive neu erzählt. Wir wussten, dass Rafael Padilla ein Sklave gewesen war, nach Europa verkauft wurde, als schwarzer Clown zu Ruhm kam und tragisch endete. Ich stärkte die Rolle seines Partners, des weißen Clowns Foottit, weil ich fand, dass dies der beste Weg sei, um Padillas Karriere zu rekapitulieren.
profil: Ein kurzer Film der Brüder Lumière, gedreht um 1900, dokumentiert den Zirkus-Act des historischen Duos. Zem: Es existieren sogar fünf Lumière-Filme über die beiden, ich zeige am Ende von „Monsieur Chocolat“ den besten davon. Die Komik jener Ära wirkt heute etwas patiniert. Ich bat James Thiérée, der Foottit darstellt, also darum, die Shows neu zu choreografieren.
profil: Ein wenig dichterische Freiheit ist dennoch in Ihrem Film: „Othello“ wollte Padilla in Wahrheit wohl nie spielen, oder? Zem: Nein, „Othello“ ist eher ein Symbol für mich. Padilla versuchte sich nach seinem Ausstieg aus dem Zirkus als Schauspieler, und wir wissen, dass er Moses auf der Bühne darstellte. Er hatte allerdings große Mühe, Texte zu lernen, scheiterte daran total. 90 Prozent meiner Geschichte ist also wahr, der Rest erfunden. Padilla war etwa nie im Gefängnis, so viel ich weiß; aber von ihm ist leider wenig überliefert, man hat ihn weitgehend vergessen.
profil: Der Rassismus wird in Ihrem Film auf erstaunlich differenzierte Weise thematisiert. Foottit tritt seinem Freund ohne jede Überheblichkeit entgegen, nur in der Arena müssen beide die rassistischen Klischees ihrer Ära erfüllen. Ist „Chocolat“ ein politischer Film? Zem: Ich hoffe. Als Bürger und Filmemacher ist es mir ein Anliegen, mich in Debatten einzumischen, soziale Verhältnisse zu kommentieren.
profil: Wie kommentiert Ihr Film die politische Gegenwart? Zem: Es ist eine Allegorie auf aktuelle Zustände. Vor 100 Jahren war auch der Rassismus in Frankreich ganz anders, denn er fußte viel mehr auf dem Unbekannten, dem Fremden. Man hatte bis dahin kaum schwarze Menschen gesehen. Chocolat, der Clown, wurde als eine Art Tier gesehen, sogar von Intellektuellen und politisch denkenden Leuten; Toulouse Lautrec gab ihm in seinem Porträt die Gesichtszüge eines Affen. Der gegenwärtige Rassismus aber gründet eher auf Hass, auf radikale Ablehnung des Anderen.
profil: Und Hass ist schlimmer als Angst vor dem Fremden? Zem: Natürlich. Wenn wir jemandem wegen seiner Religion oder Hautfarbe mit Hass und Ausschließung begegnen, ist das viel grauenhafter als die Angst vor dem Unbekannten. Aber wie vor 100 Jahren beuten wir die Länder aus, denen die Flüchtlinge entstammen.
profil: Padilla ist auch ein Flüchtling: Er entflieht der Sklaverei, kommt aus Kuba nach Europa. Zem: Er hatte das Glück, einzigartig zu sein, als Showman zu reüssieren – und er war allein. Das war schon immer so: Einer ist okay, aber viele davon werden zum Problem. Die Liebe zwischen Foottit und Padilla ist die zentrale Allegorie: Wir müssen einander nicht ablehnen, können einander auch lieben. Die Frage ist allerdings: unter welchen Umständen? Liebt man jemanden nur, wenn er einen auch mag? Wenn er so aussieht wie man selbst? Oder nimmt man jemanden an, wie er oder sie eben ist? Das ist unser Problem: Wir lieben die Menschen nicht mehr, wie sie sind.
profil: Liebe ist ja vielleicht auch zu viel, zu possessiv? Zem: Genau. Es sollte eher um Freundschaft gehen. Darin steckt die Idee der Akzeptanz. Man sollte nicht immer den alten Hippiespruch von Liebe und Frieden bemühen, denn es sollte um Freundschaft und Frieden gehen. Das ist gesünder.
profil: Sie waren in Paris, als sich die Terroranschläge ereigneten. Wie beurteilen Sie die Stimmung in der Stadt? Zem: Es ist seltsam. Ich habe zwei Kinder, 15 und 19 Jahre alt. Sie verdrängen, was passiert ist. Für uns Ältere ist die Atmosphäre schon beklemmend. Es ist nicht leicht, im heutigen Europa muslimisch zu leben. Alle werden in dieselbe Schublade gesteckt. Ich bin auch Muslim, aber ich habe natürlich einen privilegierten Platz.
Ich selbst bin im Alltag keinen Vorurteilen ausgesetzt. Wegen meines Jobs bin ich weißer als alle anderen.
profil: Sehen Sie sich nicht auch selbst Vorurteilen ausgesetzt? Zem: Ich selbst nicht. Wegen meines Jobs bin ich weißer als alle anderen. Aber ich sehe es an meinen Freunden und meinen Brüdern. Es war schon immer schwierig, Jobs und Wohnungen zu finden, wenn man in Frankreich lebt und nordafrikanische Wurzeln hat. Inzwischen ist es fast unmöglich. Die Dinge werden schlechter, auch wenn ich versuche, optimistisch zu bleiben. Die Leute haben Angst, und wir haben politische Führer, die diese Angst noch schüren.
profil: Sie gehören zu Frankreichs meistbeschäftigten Schauspielern, sind seit den 1990er-Jahren als Charakterdarsteller in den Filmen wesentlicher Regisseure wie André Téchiné, Laetitia Masson oder Xavier Beauvois aktiv. Sind Ihnen, wenn Sie selbst Regie führen, die Schauspieler das Wichtigste? Zem: Natürlich. Ich beginne jeden Drehtag damit, mich mit ihnen auszutauschen. Ich liebe Schauspieler, auch wenn sie manchmal schwierig sind und jeder auf seine eigene Weise inszeniert werden will. Man muss ihnen Freiheit geben, darf es damit allerdings nicht übertreiben. Das ist psychologisch diffizil, aber sehr lohnend. Als Schauspieler bin ich übrigens nie zufrieden, aber ich vertraue meinen Regisseuren. Ich glaube ja, Perfektion existiert nicht. Man kann immer alles besser machen, auch als Filmemacher.
profil: Der Schweizer James Thiérée, der neben Omar Sy Ihr zweiter Hauptdarsteller ist, ist eigentlich Zirkusartist. Er ist Charlie Chaplins Enkel – und interessanterweise haben Sie vor zwei Jahren im Kino einen Mann gespielt, der Chaplins Leiche stiehlt, um Lösegeld dafür zu erpressen. Zem: Stimmt, Chaplin ist in meinem Leben sehr präsent. Padilla und Foottit machen im Zirkus Gesellschaftssatire. Aber als Pioniere werden sie nicht sofort verstanden. Auch Chaplin war ja immer die arme, ausgebeutete, geschlagene Figur, die am Ende trotzdem gewinnt.
profil: „Chocolat“ ist Ihre vierte Regiearbeit, und Sie inszenieren seit 2006 in immer schnellerem Rhythmus. Wollen Sie Ihre Karriere als Filmemacher intensivieren? Zem: Schon, ja. Aber das hängt auch von Zufällen, von günstigen Gelegenheiten ab. Ich bin jetzt 50, und ich merke, dass mich das Regieführen immer mehr interessiert, mehr auch als das Schauspielen. Mich befriedigt das Schreiben, Inszenieren und Schneiden inzwischen mehr.
profil: In den französischen Kinos lief Ihr Film gut, oder? Zem: Viel besser noch als erwartet; er hatte zwei Millionen Zuschauer, obwohl er ja keine Komödie ist. Er gilt jedenfalls als einer der bislang erfolgreichsten Filme des Jahres.
profil: 2011 stieg Omar Sy mit „Ziemlich beste Freunde“ zum Superstar auf, offenbar fasste er „Chocolat“ also unmittelbar danach ins Auge? Zem: Stimmt. Offensichtlich machte erst der Erfolg von „Ziemlich beste Freunde“ meinen doch teuren Film möglich.
profil: Ist Sys Popularität für einen Film wie Ihren nur ein Segen? Oder kann es auch schwierig sein, mit Stars zu arbeiten? Zem: Die meisten Filmstars sind nur außerhalb der Drehorte Stars; am Set sind sie schlicht Schauspieler. Wir verfolgen alle dieselben Ziele.
profil: Sie schreiben an all Ihren Filmen mit? Zem: ich hab immer gerne geschrieben, obwohl ich meine Schulausbildung mit 16 abgebrochen habe. Wenn ich nun also meine Drehbücher verkaufen kann, betrachte ich das als echten Erfolg! Und ich schreibe ja nie alleine. Die erste Version verfasse ich selbst, danach konsultiere ich professionelle Drehbuchautoren. Die Dialoge werden oft erst am Set fixiert.
profil: Wie wählen Sie als Schauspieler Ihre Rollen? Zem: Ich versuche, aufregende Projekte zu wählen. Wenn man immer nur Klischeefiguren spielt, wird nicht nur mir langweilig, sondern auch dem Publikum. Ich habe immer gerne mit Regisseuren wie Xavier Beauvois oder Patrice Chéreau gearbeitet. Sie gaben mir Rollen, nach denen ich gesucht hatte. Nur deshalb habe ich so viele Filme gemacht. Es ist schwer, als Schauspieler nein zu sagen, das muss man aber lernen. Man ist jung, und es gibt oft viel Geld für uninteressante Parts, aber man muss das trotzdem ablehnen.
profil: Um sich eine Karriere aufzubauen? Zem: Als ich anfing, waren die meisten Rollen, die man mir anbot, extrem klischeehaft. Ich musste mir schon damals angewöhnen, nein zu sagen. Das ist aber schwer, wenn man arbeiten und Geld verdienen will. Wenn ich heute hier sitze, dann deshalb, weil ich vor 20 Jahren schon nein sagen konnte.
profil: Sie hatten von Anfang an einen Plan? Zem: Ansatzweise. Ich wusste damals natürlich nicht, dass ich 20 Jahre später noch immer Schauspieler sein würde und Regisseur noch obendrein. Ich ging davon aus, dass ich das mal für zwei oder drei Filme versuchen würde. Darüber hinaus gab es keinen Plan.
profil: In der Darstellerliste von „Chocolat“ tauchen viele Ihrer alten Bekannten auf: Xavier Beauvois, Noémie Lvovsky, Olivier Gourmet, Alex Descas. Sehen Sie Ihr Team als eine Art Familie? Zem: Ich würde das nicht so nennen. Das sind eben Darsteller, die ich bewundere und die Ihren Parts am besten entsprechen. Ich würde niemanden nur aus Zuneigung engagieren, glauben Sie mir, sonst würden da alle meine Brüder und Schwestern auftauchen.
profil: Den Shows des Clown-Duos überlassen Sie in „Chocolat“ breiten Raum. Wie entstanden diese Choreografien? Zem: James erarbeitete sie. Er wurde ja praktisch im Zirkus geboren. Ich bat ihn darum, jede dieser Performances so anzulegen, dass sie etwas über diese beiden Figuren erzählt. Es gibt den Herrschaftsaspekt des Weißen, der sich mit der Zeit relativiert. Der schwarze Clown emanzipiert sich schrittweise vom weißen. Ich wusste bis zum Schluss nicht, ob die Shows interessant und aussagekräftig genug sein würden, um sie so breit in den Film zu setzen. Es war eine Herausforderung. Glücklicherweise gelang das.
profil: Hatte Omar Sy nicht Probleme, die Artistik eines Clowns zu lernen, an der Seite eines Zirkusprofis wie James Thiérée? Zem: Doch. Aber Omar lernte einen ganzen Monat lang von James. Sie sperrten sich in einen Raum ein und übten. Klar war es hart für Omar, denn sein Humor basierte bis dahin primär auf Worten, und James war streng! Den physischen Witz musste Omar erst lernen. Aber ich erlebte da die Geburt eines echten Duos.
profil: Denken Sie beim Inszenieren an Ihre Zuschauer? Zem: Ja, ich suchte die populäre Form, wollte einen niederschwelligen Film machen, der nicht zu dunkel oder zu intellektuell sein sollte. Natürlich konnte ich „Chocolat“ kein Happy-End verpassen, aber das setzte ich immerhin durch – wir sind ja in Europa, nicht in Hollywood.
Roschdy Zem, 50
gehört seit den frühen 1990er-Jahren zu Frankreichs prononciertesten Schauspielern. Seine vierte Regiearbeit, „Monsieur Chocolat“, dreht sich um die wahre Geschichte von Rafael Padilla, der als ehemaliger kubanischer Sklave in Frankreich zum Star avanciert, als erster schwarzer Clown an der Seite eines Weißen zu Popularität kommt. Filmstar Omar Sy stellt Padilla souverän dar, an seiner Seite agiert der virtuose Clown James Thiérée.