Russische Kunstschaffende: Opportunisten und Kosmopoliten
Von Stefan Grissemann und Manuel Brug
In der Hamburger Elbphilharmonie verkauft man neuerdings Programmhefte, in denen sich Sätze wie dieser finden: "Mit der russischen Invasion in die Ukraine war Vassily Sinaisky einer der ersten Musiker, der Position gegen den Angriffskrieg bezogen hat." Die Botschaft dieses sprachlich verunglückten kurzbiografischen Anhangs ist als Gesinnungsnachweis für "gute Russen" nun offenbar obligatorisch.
Auch mehr als vier Wochen nach Beginn des Krieges sollte sich der Westen nicht dazu hinreißen lassen, alles Russische zu verdammen. Natürlich: Wer sich allzu nahe und ohne Not mit Putin präsentierte, wie die naturalisierte Österreicherin Anna Netrebko, hat in der öffentlich subventionierten Kultur gegenwärtig nichts verloren. Bei Netrebko, von der sich inzwischen auch ihre Berliner Agentur, die zur Deutschen Grammophon/Universal gehörenden CSAM, sowie das Label selbst (vorerst) getrennt haben, kommt hinzu: Die narzisstische Künstlerin scheint lange nicht zu begreifen, wie viel Übel sie nach wie vor mit ihrem Instagram-Account anrichtet.
Neben einem schnell wieder gelöschten Victory-Bild mit dem geschassten Dirigenten Valery Gergiev stand da auch kurzfristig zu lesen, ihre westlichen Kritiker seien "human shit". Und während in Mariupol die Menschen verhungern, postet Netrebko aus ihrer Wiener Dachwohnung Demonstrationen ihrer Kochkünste. Der auf Krawall gebürstete Nikolaus Bachler lässt derweil wissen, der gefallene Star sei bei seinen Osterfestspielen in Salzburg immer willkommen. Frühestens 2025, da sagt sich so etwas gleich leichter. Am Mittwoch veröffentlichte Netrebko schließlich ein Statement über ihren Anwalt: „Ich verurteile den Krieg gegen die Ukraine ausdrücklich und meine Gedanken sind bei den Opfern dieses Krieges und ihren Familien." Und sie ist sichtlich um Schadensbegrenzung bemüht: "Ich erkenne und bedauere, dass meine Handlungen oder Aussagen in der Vergangenheit zum Teil falsch interpretiert werden konnten."
In New York haben gegenwärtig die russische Sopranistin Aida Garifullina, 34, und ihr Landsmann, der Dirigent Tugan Sokhiev, 44, Engagements verloren. Garifullina ist mit 1,3 Millionen Fans die vermutlich populärste Klassikkünstlerin auf Instagram, wo sie ein luxusprunkendes Leben hinter Herzchenfiltern inszeniert. Wenn sie sich aber mit Blumensträußen im Bolschoi-Theater zeigt, während die Ukraine in Trümmern liegt, kommt das bei den Social-Media-Teams westlicher Opernhäuser nicht gut an. Und Sokhiev, eben von seinem Posten in Frankreich sowie als Musikchef des Bolschoi zurückgetreten, wird von den Amerikanern trotzdem in Sippenhaft genommen.
Regelrecht absurd mutet es an, wenn das Prager Nationaltheater die in der Ukraine spielende Tschaikowsky-Komödie "Die Pantöffelchen" absetzt, für die eine Novelle des Ukrainers Gogol die Vorlage war. Ein von dem russischen Dirigenten Wladimir Jurowski initiierter, von vielen Stars signierter Künstlerbrief fordert mehr Weitsicht ein. Kirill Petrenko, gebürtiger Russe und eingebürgerter Österreicher, unterzeichnete - und spendete 100.000 Euro für die Ukraine-Nothilfe. Demnächst wird er Tschaikowskys "Pique Dame" dirigieren.
Nicht nur der Klassikbetrieb, auch die globale Filmszene droht sich im Cancel-Chaos zu verlieren: Der in Cannes prämierte finnische Film "Abteil Nr. 6" wird allein wegen der Mitwirkung des jungen russischen Darstellers Yuri Borisov vielerorts aus den Programmen gestrichen.
Und der aktuelle Fall des ukrainischen Filmemachers Sergei Loznitsa, der sich in seiner markant politischen Arbeit oft kritisch mit sowjetischer Geschichte befasst ("Maidan", 2014; "Donbass", 2018), beweist, wie zweifelhaft der Begriff der "Moral" nun besetzt wird. Loznitsa, 1964 in Belarus geboren, seit 2001 in Berlin wohnhaft, hat Putins Invasion von Anfang an aufs Schärfste verurteilt ("ein wahnsinniger und suizidaler Akt, der zum Kollaps des kriminellen russischen Regimes führen wird. Die Ukraine wird siegen!"). Drei Tage nach Kriegsbeginn trat Loznitsa aus der Europäischen Filmakademie aus, weil ihm deren Solidaritätserklärung mit der Ukraine "zahnlos und konformistisch" erschien. Drei Wochen später schloss ihn die ukrainische Filmakademie wegen "kosmopolitischer" Haltungen aus; Loznitsa hatte dafür plädiert, regimekritische russische Filme nicht zu boykottieren.
Der Vorwurf des "Kosmopolitismus" ist tatsächlich ein stalinistischer Propagandabegriff. Aber Differenzierung ist in der Ukraine nicht mehr möglich. Auch Loznitsas jüngster Dokumentarfilm, "Babi Yar: Context", dürfte zu seiner Diffamierung beigetragen haben: Der Film berichtet von der ukrainischen Kollaboration an der Ermordung von fast 34.000 Kiewer Juden durch die Nazis 1941. Wenn die ukrainischen Kulturschaffenden nun auf "die Verteidigung der nationalen Identität" beharrten, statt auf den Schulterschluss aller vernunft- und freiheitsliebenden Menschen gegen Putin, dann sei dies leider "Nazismus", so Loznitsa - und als solcher "ein Geschenk für die Kreml-Propaganda".
Loznitsa hält es im Übrigen für moralisch unvertretbar, wenn die westliche Welt aus Angst vor Eskalation nicht gegen Russland einschreitet. Denn er ist überzeugt davon, dass der Weltkrieg bereits begonnen hat.