Herzensbildungsarbeit: Neues von Ruth Beckermann bei Filmfestspielen in Berlin
In politisch wild bewegten Zeiten ist auch die Kunst aufgefordert, Stellung zu beziehen. Die Filmfestspiele in Berlin sind ein Kulturschauplatz, an dem seit jeher mit Weltbildern und möglichst gegenwärtigen Debatten hantiert wird. Das Kino wird hier nicht als Zerstreuungsapparat, schon gar nicht als Begleitmaterial zu Bier und Nachos gesehen, sondern als Instrument, das überraschen, eingreifen, aufklären und dazu beitragen kann, den Zerstörungskräften des Terrors und der Tyrannei entgegenzuwirken.
Nun ist dies zwar schwierig, weil man Filme bekanntlich nicht so schnell wie die Leitartikel der Abendausgaben produzieren kann, aber die dringlichen Fragen der Menschheit sind ja verhältnismäßig zeitresistent. Auch Werke, die vor ein paar Jahren begonnen wurden, können sich ihre Brisanz bewahrt – oder durch aktuell sich überschlagende Ereignisse an Bedeutung sogar noch gewonnen haben. Die Berlinale-Präsenz von Dokumentarfilmen wie „Intercepted“, einer Analyse abgefangener Telefonate russischer Soldaten mit ihren Familien, oder „No Other Land“, einer von palästinensisch-israelischen Regiekräften lange vor dem 7. Oktober gedrehten Bestandsaufnahme der Zerstörungen im Westjordanland durch die israelischen Besetzer, beweist dies, zeigt aber zugleich die engen Grenzen der Wirkmacht solcher Arbeiten auf; bei der Premiere des letztgenannten Films etwa skandierte ein Aktivismus-Chor im Kinosaal den Israel-Eliminierungs-Slogan „From the river to the sea“.
Auf die dieser Tage tobenden Kriege bleibt politisch relevantes Kino natürlich nicht beschränkt. Im Wettbewerb um den Goldenen Bären etwa setzt sich die französisch-senegalische Filmemacherin Mati Diop in ihrer dokumentarischen Produktion „Dahomey“ mit dem offenen Problem kolonialer Raubkunst auseinander. In typisch lyrischem Stil und fast geisterhaften Bildern verfolgt sie die Reise von 26 Objekten, die von der einstigen Kolonialmacht Frankreich 2021 nach jahrelangen Bemühungen seitens des westafrikanischen Staates Benin an diesen zurückerstattet wurden – 26 von 7000 in Frankreichs Museen gelagerten Artefakten. Aber im Zentrum des höchst reflexiven Films findet auch eine lebendige Diskussion darüber statt, welchen Sinn Restitution heute haben könnte, sollte oder müsste.
Und die Wiener Regisseurin Ruth Beckermann hat dem Innovativ-Zweitwettbewerb Encounters einen der populärsten Filme der ersten Spieltage beigesteuert: Ihr neues Werk, das sie doppeldeutig „Favoriten“ genannt hat, weil es nicht nur im 10. Bezirk spielt, sondern auch von echten Alltagsheldinnen und -helden berichtet, ist eine Langzeitstudie; drei Jahre lang hat Beckermann die Vorgänge in einer Klasse an einer großen Wiener Volksschule mit der Kamera begleitet, das Schulleben der größtenteils aus Migrationsfamilien stammenden Kinder aufgezeichnet. Und „Favoriten“ führt einem ganz buchstäblich vor Augen, wie prägend (und eben auch politisch wegweisend) die frühen Erfahrungen sind, die man als Volksschulkind macht.
Die für diese Klasse zuständige Lehrerin, Ilkay Idiskut, ist für das Gelingen des Films entscheidend mitverantwortlich. Man muss bewundern, mit wie viel Geduld und Humor, Empathie und psychologischem Feinschliff die junge Pädagogin Konflikte schlichtet und schiefe Weltbilder zurechtrückt, wie diplomatisch und dennoch unmissverständlich sie auch mit den oft reaktionären Vorgaben umgeht, die von ihren Zöglingen aus deren Elternhäusern mitgebracht werden. Beckermann beschönigt nichts, zeigt neben all der kindlichen Kreativität und Erfindungsgabe auch die Verzweiflung angesichts schlechter Noten und die gelegentliche Strenge, mit der die Lehrerin durchgreifen muss. Das ist „Favoriten“: ein mitreißender Trip durch drei Jahre Herzensbildungsarbeit, ein Werk des angewandten Humanismus.