"1917": Sam Mendes' virtuoses Weltkriegs-Drama
Die womöglich kürzeste Darstellung des Ersten Weltkrieges – und wohl eine der besten – stammt von einem österreichischen Dichter: „schtzgrmm“ von Ernst Jandl braucht nur ein paar Buchstaben, um das Grauen des ersten modernen Krieges nachvollziehbar zu machen. Die Pointe erschließt sich unmittelbar. Alle Selbstlaute sind aus dem Schützengraben weggesprengt worden, es bleibt nur das Pfeifen und Sirren von Konsonanten, die einem auch beim Lesen wie Schrapnelle um die Ohren fliegen.
Es wäre eine interessante Frage an den britischen Filmemacher Sam Mendes, ob ihm das Jandl-Gedicht (das auf Englisch wohl „trnnchss“ heißen müsste) jemals untergekommen ist. Denn sein neuer Film, genannt „1917“ (Kinostart: 16.1.), beginnt mit einer Erfahrung, die nicht minder dazu angetan ist, geradezu körperlich erfahrbar zu machen, was es hieß, sich in einem Schützengraben zu befinden. Allerdings ist die Sprache für Mendes nur Teil einer größeren Medienanordnung: „1917“ bietet alles auf, was das Kino kann – und zwar das Kino des frühen 21. Jahrhunderts. Die beiden englischen Soldaten, von denen er erzählt, wirken in der künstlerischen Versuchsanordnung dieses Films wie Laborratten in einem mit Fortgang des Films zunehmend virtueller wirkenden Universum.
Es braucht nur wenige Minuten, um Mendes’ Programm zu begreifen. Er beginnt auf einer Wiese, mit einem nahezu idyllischen Moment, der aber trügerisch ist. Denn die Korporale Blake (Dean-Charles Chapman) und Schofield (George MacKay) haben nur ein paar Minuten, um ein wenig zu verschnaufen. Dann werden sie wieder gerufen, um neue Befehle in Empfang zu nehmen. Auf ihrem Gang geht ihnen die Kamera voraus, und mit jedem Schritt verändert sich die Szenerie ein wenig, bis es dann nach unten geht. Der Erste Weltkrieg fand zu wesentlichen Teilen unter der Erde statt, zwei, drei Meter tiefer in einem strategischen System, das sowohl die Bewegung wie auch die Sicht einschränkte. In diesem Labyrinth bewegt sich die Kamera nun mit den beiden Helden, und zwar ohne Unterlass. „1917“ ist vor allem eine filmtechnische Meisterleistung, oder auch: eine nahezu perfekte Illusion von einem Krieg weit vor unserer Zeit.
Zwei Golden Globes
Bei den Golden Globes vor einer Woche wurde „1917“ in zwei zentralen Kategorien ausgezeichnet: bester dramatischer Film und beste Regie. Damit ist der erste Teil des Ambitionsprogramms erfolgreich bestritten, denn unübersehbar misst Sam Mendes sich an einem berühmten Vorgänger, an Steven Spielbergs „Saving Private Ryan“ (1998) – damals gab es nach drei Golden Globes insgesamt fünf Oscars. Das wird für „1917“ sicher schwierig, angesichts der komplexen Abwägungen, mit denen es die Academy heutzutage zu tun hat, aber zu den Favoriten muss man Mendes’ Epos wohl zählen.
Spielberg setzte mit seiner berühmten Sequenz von der Landung der alliierten Truppen in der Normandie im Juni 1944 damals neue Maßstäbe für die Darstellung von Krieg im Kino: Die Überwältigungseffekte, erzeugt durch Bild und Ton, Kamerabewegung und Schnitt, standen spektakulär für eine Erfahrung ein, für die es davor nur deutlich konventionellere filmische Mittel gegeben hatte. Mendes geht historisch einen Schritt zurück, vom Zweiten zum Ersten Weltkrieg, aber auch ihm geht es offensichtlich darum, den Krieg nicht so sehr als militärisches Geschehen zu zeigen, sondern als eine Schnittstelle zwischen verwundbaren Körpern und invasiver Technik.
Blake und Schofield haben zwar eine Mission – sie sollen eine Nachricht an jene Truppe überbringen, die Gefahr läuft, bei einem Angriff auf deutsche Stellungen in eine tödliche Falle zu laufen. Damit ist ihnen ein Weg aufgegeben. Sie müssen das Gelände durchmessen, auf dem 1917 der Krieg zwischen England und Deutschland stattfand: in Belgien, wo man nach dramatischer Landschaft eher suchen muss. Mendes hat gesucht, und er hat alles für einen beeindruckenden Parcours gefunden: Eine Filmstunde lang ist der Weg noch halbwegs plausibel, dann wird er zunehmend zu einem Katalog von Schauplätzen, die es für den abwechslungsreichen Fortgang braucht. Unübersehbar ist hier das ästhetische Maß nicht eine konkrete Landschaft in Westeuropa, sondern die Topologie von Computerspielen. Bei Mendes ist von den Schauplätzen immer gerade so viel zu sehen, dass man sich irgendwo verstecken kann, bevor man wieder loshasten muss. So stürzt Schofield einmal in einen Fluss, der deutlich reißender ist, als es das natürliche Gefälle vielleicht hergibt, als zu absolvierende Aufgabe (als „Level“) aber ist die Szene stark.
Virtuos verbindet „1917“ dabei auch verschiedene Epochen des Kinos. Der Mann hinter der Kamera heißt Roger Deakins, auch er Brite wie Mendes, aber mit seinen Arbeiten vor allem für die Coen-Brüder längst bestens in Hollywood etabliert. Deakins schafft das Kunststück einer konzentrierten Beobachtung in einer entfesselten Umgebung und lässt den Effekt einer ununterbrochenen Bewegung so natürlich aussehen, dass man als Zuschauer dann schon beinahe aus Trotz nach den Nahtstellen zu suchen beginnt.
Von Wiese zu Wiese
Denn Mendes dehnt das Prinzip der Echtzeit, er erzählt nicht von zwei Stunden (so lange dauert der Film), sondern von 24 Stunden, und er lässt die Handlung dabei auch noch einmal gleichsam im Kreis gehen, von Wiese zu Wiese. Und er klappert dabei von Spielberg bis Kubrick die halbe Filmgeschichte ab, überführt sie ins Zeitalter der Immersion, also in die Gegenwart, die nach Kinoerfahrungen sucht, die das Publikum möglichst vollständig in sich aufnehmen.
Eine Bemerkung bei der Golden-Globes-Dankesrede macht noch einen zusätzlichen Kontext auf: Sam Mendes verwies da auf seinen Großvater, der 17 Jahre alt war, als er in den Ersten Weltkrieg ging. Dieses persönliche Motiv aus einer Familiengeschichte trieb zuletzt auch Peter Jackson bei seinem Dokumentarfilm „They Shall Not Grow Old“ an. Auch der neuseeländische Kinotechnokrat berief sich auf seinen Großvater und konnte wie Mendes einen Veteranenkontakt vorweisen, der sich historisch gerade noch ausgeht. Jackson näherte sich auf anderem Weg dem gleichen Ziel wie Mendes. Er ging von historischem Dokumentarmaterial aus und animierte es technisch mit dem Ziel, einen starken Effekt von Unmittelbarkeit zu erzeugen. Auch bei ihm ging es darum, ein Erlebnis wie in den Schützengräben zu schaffen.
Zusammengenommen zeigen diese beiden Filme, in welche Epoche das Kino gerade eintritt. Es nimmt alles mit, was es seit seinen Anfängen im späten 19. Jahrhundert entwickelt hat, und tritt damit in die heutige Aufmerksamkeitskonkurrenz ein. Es geht in dieser Konkurrenz um eine sensorische Rundumbeanspruchung, die Stress in Genuss verwandelt. Dafür sind Kriegsszenarien ideal geeignet: Sie verbinden höchste Gefahr mit der Sicherheit einer nur virtuell exponierten Zuschauerposition.
Im Falle von „1917“, aber auch bei den „wiederbelebten“ Veteranen von Jackson, bleibt aber auch ein Unbehagen: Die Technik bemächtigt sich des Historischen und des Realen mit einer Übermacht, die man selbst als kriegerisch empfinden könnte. Sam Mendes betrachtet sich vermutlich als großen Künstler, mit „1917“ aber gibt er den Gefreiten in einem strategischen Aufmarsch, bei dem er auch Oscar-gekrönt nur am Rande mitreden wird.