Kulturtipp

Die langen Schatten

War mein Vater ein Mörder? Wolfgang Paterno über ein neues Buch, das an gesellschaftliche und politische Tabus rührt.

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Die einen bejubelten Soldatentum und Schrapnellgewitter noch Jahrzehnte nach Kriegsende, mit Gesichtern voller Heimweh nach Kameradschaft und Zusammenhalt im Schützengraben, die anderen verstummten nach 1945. Viele ehemalige Angehörige der Waffen-SS stilisierten sich in den Nachkriegsjahrzehnten zu vermeintlichen Solitären der nationalsozialistischen Bewegung – in völliger Verkennung und eiserner Leugnung der Tatsache, dass die paramilitärische Waffen-SS in den Nürnberger Prozessen zur verbrecherischen Organisation erklärt worden war, weil sie in ganz Europa für die furchtbarsten Verbrechen der deutschen Besatzung und für den Holocaust verantwortlich gewesen war. 

In seinem neuen Buch „Schatten. Unsere Väter in der Waffen-SS“ (Edition Raetia) umkreist der deutsche Politologie und Autor Thomas Casagrande heikles Terrain. Casagrande, 68, ist eine Art Pionier im Anstoßen von Tabus. Sein Vater, Otto Casagrande, war Aktivist der illegalen NS-Bewegung in Südtiroler und Mitglied der Waffen-SS; Sohn Thomas setzt sich seit Jahren in aller Öffentlichkeit und Offenheit mit der damit verbundenen Problematik der sogenannten transgenerationalen Vermittlung auseinander – mit der Weitergabe von Traumata, Vorurteilen und Verhaltensweisen von Vätern, die der Waffen-SS angehörten, auf ihre Söhne und Töchter, Enkel und Enkelinnen.

In „Schatten“ weitet Thomas Casagrande nun den Radius dieses nahezu unerforschten Feldes: Er bat zwölf Kinder und Enkelkinder ehemaliger SS-Täter zu ausführlichen Aussprachen – mit teils erschütternden Ergebnissen. „Mit ihm zu leben, war katastrophal, wie ein Gefängnis“, erinnert sich eine Tochter. „Ich mache meinem Vater Vorwürfe, dass er sein Kriegstrauma an uns ausgelassen hat“, bemerkt der Sohn eines ehemaligen Mitglieds der 24. SS-Division „Karstjäger“. Die Idee des Buches, schreibt Casagrande, sei es gewesen, den Kindern von SS-Männern zuzuhören, jene Schatten zu zeigen, die sich auf die eine oder andere Weise über die Nachkommen legten. Und weiter: „War der Vater an Mordtaten der Waffen-SS beteiligt? Diente er in einem Konzentrations- oder gar Vernichtungslager? Oder war er, außer für den Fronteinsatz in der Waffen-SS, von weiteren Vorwürfen zu entlasten? Das wissen zu wollen, ohne sich der Antwort sicher zu sein, zeichnet die hier zu Wort kommenden Menschen aus.“

Die Vergangenheit ist nicht tot. „Die Waffen-SS“, bemerkt Jochen Böhler vom Vienna Wiesenthal Institute for Holocaust Studies im Vorwort, „hat Millionen unschuldiger Menschen – Männer, Frauen und Kinder – ermordet. Das ist ihr einziger Platz in der Geschichte, auch wenn Ewiggestrige – wie etwa prominente Mitglieder der Freiheitlichen Partei in Österreich – noch heute gerne anderes behaupten.“ 

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.