Scher dich zum Teufel!
Am 24. Februar wurde die Zeit in der Ukraine in ein Davor und ein Danach zerrissen. In ein "vor dem Krieg" und ein "während des Krieges", schreibt Andrej Kurkow: "Natürlich hoffen wir alle, dass es auch eine Zeit 'nach dem Krieg' geben wird, aber diese Möglichkeit ist für viele bereits auf tragische Weise unerreichbar geworden." Es gibt in "Tagebuch einer Invasion", Kurkows Chronik des russischen Angriffskrieges in der Ukraine, viele Sätze, die von wenig Hoffnung zeugen. Einer der hoffnungslosesten ist dieser: "Wir haben uns mit der Vorstellung abgefunden, dass dieser Krieg noch lange andauern wird."
"Tagebuch einer Invasion" ist ein Trauer-und Totenbuch, das den Soldatinnen und Soldaten der Ukraine gewidmet ist. Auf dem Buchcover ist die berühmt gewordene Sonderbriefmarke der ukrainischen Post abgebildet, auf der ein ukrainischer Soldat dem russischen Kriegsschiff "Moskwa" den Mittelfinger zeigt. Russland, scher dich zum Teufel! Die Hölle, notiert Kurkow, habe inzwischen einen bestimmten Platz auf der Landkarte und ihre eigene Hauptstadt: "Moskau". Sein Tagebuch ist auch ein langer Appell, die Ukraine zu unterstützen und den Kriegstreiber, den russischen Präsidenten Wladimir Putin, zu verdammen.
Kurkow, 61, ist selbst ethnischer Russe, der im heutigen St. Petersburg geboren wurde, seine Bücher auf Russisch schreibt und seit Jahrzehnten in Kiew lebt und arbeitet. Seit dem 24. Februar ist er auf der Flucht. Ein Romancier, der gegenwärtig nur über den Krieg schreiben kann.
Es gibt etliche ukrainischstämmige Autorinnen und Autoren, die sich mit ihren Büchern und Berichten der Ohnmacht des Krieges entgegenstellten. Die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, 1948 in der Ukraine geboren und in Belarus aufgewachsen, erzählte in ihren dokumentarischen Romanen über Kinder im Zweiten Weltkrieg und das Gemetzel der UdSSR in Afghanistan zwischen 1979 und 1989.
Der Journalist und Schriftsteller Wassili Grossman, der 1905 im südukrainischen Berditschew geboren wurde und 1964 in Moskau an Magenkrebs starb, war im Zweiten Weltkrieg als Reporter mit der Sowjetarmee im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht unterwegs. Grossman hat Stalins Großen Terror und die Schlacht um Stalingrad miterlebt; er war ein Zeitgenosse der nationalsozialistischen Konzentrationslager und des sowjetischen Gulags. Sein Romanepos "Leben und Schicksal" war in der UdSSR lange verboten und erschien erstmals 1980 auf Russisch, wurde jedoch bald wieder vergessen, ehe 2007 eine viel beachtete deutsche Übersetzung erschien.
Alexijewitsch und Grossman schrieben ihre Bücher über das Menschenschlachten in jeweils zeitlicher Entfernung. Kurkow steckt in "Tagebuch einer Invasion" mittendrin im russischen Bomben-und Raketenhagel. Krieg ist, das macht Kurkow schnell deutlich, wenn jeder Grundkonsens ausgelöscht, jede Menschlichkeit eliminiert ist. Wenn der rote Faden von Millionen Lebensläufen durchschnitten wird. Wenn Millionen Menschen die Deutungshoheit über ihr eigenes Leben verlieren. Das ist die eine Dimension des Tagebuchs. Die andere betrifft Kurkow selbst. "In den letzten drei Monaten habe ich vergessen, wie man liest", registriert er drei Monate nach Kriegsbeginn.
Kurkow notiert, erklärt, holt historisch weit aus. Er möchte alles sehen und hören, was derzeit in der Ukraine geschieht. Er versucht, den Strom seiner Eindrücke und Erinnerungen in das Tagebuch hinüberzuretten. Seine Mitschrift ist das beklemmende Dokument des russischen Stahlhagels auf Dorfmärkte, Spitäler, Kindergärten, Kinos, Kirchen, Gemeindesäle und Einkaufszentren.
Dabei schließt Kurkow immer wieder vom Kleinen aufs Große. Da ist die 80-jährige Rentnerin Nadeschda, die sich ein Tattoo auf ihr Bein hat stechen lassen, das Wappen der Ukraine, einen Dreizack, und Weizenähren, das Symbol des Landes. Eine solche Tätowierung kann einen das Leben kosten. Russische Soldaten zwingen ukrainische Männer und Frauen, sich zu entkleiden, um nach den patriotischen Bekenntnissen auf der Haut zu suchen. Es drohen Verhöre und Folter.
Ungläubig berichtet Kurkow über eine ukrainische Befehlshaberin. Artillerieoffizierin Tetjana hat ihre Nägel in den Nationalfarben lackiert, das Innere ihres Kampffahrzeugs hat sie rosa angemalt. "Zuerst verstanden wir nicht, was Krieg war", protokolliert der Schriftsteller: "Man kann so etwas erst verstehen, wenn man es selbst sieht und erlebt."
Das Kriegstagebuch setzt ein am 29. Dezember 2021. Delta und Omikron regieren auch in der Ukraine, Silvesterstimmung kommt nicht auf. Der drohende Krieg mit Russland? Ein Küchentischthema, nicht mehr. "Lassen Sie uns das Jahr 2022 also in vollen Zügen genießen und möge Gott uns alle schützen!", verabschiedet sich Kurkow zum Jahreswechsel. Eintrag vom 5. Jänner 2022: "Die Stimmung in der Ukraine ist aber weiterhin verschneit fröhlich. Da gehen die Kinder meist Schlitten fahren und machen Schneeballschlachten."
Noch muss man sich den anrollenden Wahnsinn, den Putin mit seinem Angriffsbefehl am 24. Februar um fünf Uhr morgens entfachen wird, dazudenken. Noch hält Kurkow, der als Erzähler das Repertoire von Schalk bis Spott beherrscht, verdutzt das Katzenbilder-Faible seiner Landsleute auf Facebook fest und wundert sich über die Endlosstreitereien um eine Reform des Schulessens. Mitte Februar versprüht er Zweckoptimismus: "Abgesehen von der andauernden Bedrohung eines Kriegsausbruchs scheinen die Dinge in diesem Land ganz gut zu gehen."
Am Vorabend des russischen Angriffs dann erste dunkle Pinselstriche im Bild: "Der Frühling ist da und die Temperaturen sind auf 13 bis 14 Grad gestiegen. Die Sonne scheint, die Vögel singen und von Westen her rollen Militärfahrzeuge und Krankenwagen die Straße entlang." Die Fahrzeugkolonnen passieren bereits Kiew und fahren gen Osten weiter.
Eine letzte Volte noch, bevor sich der Ton im Tagebuch verdüstert. Am Vorabend des Überfalls kocht Kurkow Borschtsch. "Ich hoffte, Putin würde unser Abendessen nicht stören. Das tat er auch nicht. Er beschloss stattdessen, am nächsten Morgen um 5.00 Uhr Raketen auf die Ukraine abzufeuern." Keine Woche darauf schreibt Kurkow nieder, der Krieg in der Ukraine sei für ihn ein "Weltkrieg". Es folgt der Vermerk: "Mir sind schon längst die Worte für das Grauen ausgegangen, das Putin uns auf ukrainischem Boden beschert hat."
Es geht in diesen Aufzeichnungen immer wieder auch um Lebenszeichen. Hat jener Freund den rettenden Zug nach Lwiw erreicht? Wie geht es der Philosophieprofessorin Swetlana, die in Kiew geblieben ist und die Kurkow zuvor folgende Nachricht zukommen ließ: "Ich habe beschlossen, mich zu verabschieden, für den Fall der Fälle. Sie haben vor einer schrecklichen Bombardierung gewarnt. Ich werde in meiner Wohnung bleiben. Ich bin es leid, immer in den Keller zu rennen. Falls mir etwas zustoßen sollte, erinnert euch mit einem Lächeln an mich! "Was macht der Diabetiker Walentin, dem kürzlich beide Beine amputiert wurden? Ist ihm die Flucht aus der Hauptstadt gelungen? "Ja", bestätigt ein anderer Freund Kurkows in Charkiw: "Wir stehen hier ständig unter Beschuss, und trotzdem spielen die Kinder noch unten im Hof." Ist Tolik, Kurkows Sommerhausnachbar, noch wiederzuerkennen? Tolik hat beschlossen, sich bis zum Kriegsende nicht mehr zu rasieren. Erst wieder im Danach.
Und das sogenannte normale Leben? Ein "Hirngespinst, ein Trugbild", schreibt Kurkow in seiner Chronik, die bis Mitte Juli 2022 datiert: "Für meine Generation wird jetzt kein normales Leben mehr möglich sein. Jeder Krieg hinterlässt eine tiefe Wunde in der Seele eines Menschen. Er bleibt ein Teil des eigenen Lebens, selbst wenn er längst vorüber ist."