Schnaps und Schneidezähne
Hätte der irische Sänger und Songwriter Shane MacGowan nicht tatsächlich gelebt, diese Lebensgeschichte wäre schwerlich zu erfinden gewesen. Ein wandelnder Widerspruch auf zwei Beinen, ein Dasein verschärfter Gegensätze: frommer Katholik und atheistischer Marxist, irischer Freiheitskämpfer und Friedensmissionar, Poet und Prediger, Folksong-Liebhaber und Punk-Gröler, Schöpfer von Weihnachtslied-Schmonzetten („Fairytale of New York“) und Gesängen über die Große Hungersnot in Irland („Thousands Are Sailing“) sowie kongenialer Interpret des Heimweh-Klassikers „Dirty Old Town“. MacGowan war stets von einer Aura eigensinnigen Freiheitsdrangs umweht. „Eier und Gefühle zu zeigen“, das sei von Beginn an der Auftrag gewesen, lässt der junge MacGowan in dem Dokumentarfilm „Shane“ (2020) wissen, einem Musikerporträt als Liebeserklärung.
Nur konsequent, dass „Shane“-Regisseur Julien Temple einigen Aufwand betreibt, um diese Lebensgeschichte zu erzählen: Animationsfilm, Zeitzeugeninterviews, Dokumentarabschnitte, Archivaufnahmen, Tondokumente. Alles beginnt im irischen Tipperary, dem Weiler, in dem MacGowan aufwuchs: Truthähne, Gänse, Heuernte, umgeben von maulfaulen Verwandten, die sich untereinander vorzugsweise mit dem Wort „Fuck!“ verständigten. Das erste Bier mit drei Jahren, wenig später der erste Vollrausch. Gefeiert, geraucht und gesoffen hat MacGowan sein Leben lang: „Drei Flaschen Whiskey am Tag, und ich lebe immer noch.“ Ein Porträtfilm als liebevoller Nachruf, der sich MacGowan in aller Empathie nähert.
Buchstäblich über Nacht wurde MacGowan berühmt: Dem jungen, dauerbetrunkenen Mann mit den abstehenden Ohren, der die Künste der Zahnmedizin jahrzehntelang strikt ignorierte, wurde bei einem Konzert der Band The Clash 1977 in London eine Flasche am Kopf zerschmettert. Ein Foto des blutüberströmten Pogo-Anhängers wurde im Musikmagazin „NME“ abgedruckt. „Kannibalismus beim Clash-Konzert“, schrieben die Zeitungen. Shane O’Hooligan, so wurde MacGowan früh in der Punkszene genannt. Bald gründete er seine erste Band The Nipple Erectors, später umbenannt in The Nips. The Pogues, um 1980 formiert, sind Pop-Historie. Pogue Mahone hieß die Band ursprünglich. Zu Deutsch: Leck mich am Arsch. „In meinen Texten geht es ums Vögeln, um Schlägereien, ums Saufen, ums Leben und ums Sterben, um Dinge, die alle Menschen betreffen“, sagt MacGowan in „Shane“. Am 30. November 2023 starb Shane MacGowan, von einem bewegten und exzessiven Leben gezeichnet, in Dublin. Dass er 65 Jahre alt wurde, mutet wie ein Weihnachtswunder an.