Um eine Ahnung von Hells Leben und Arbeiten auf der Grafenbergalm zu bekommen, sollte man die Filme „Am Stein“ (1997) und „Im Augenblick – Die Historie und das Offene“ (2013) sehen, in denen der Regisseur Othmar Schmiderer den Schriftsteller mit der Kamera auf der Hochalm im Schatten des Dachsteins begleitete. Kühe und Ziegen beim Weiden, Bauern bei der Arbeit, Hell beim Käsemachen im Schutzhaus mit der verwitterten Fassade. „Am Stein“ und „Im Augenblick“, eine Gemeinschaftsarbeit mit der Filmemacherin Angela Summereder, sind in ruhigen Bildern erzählte Essayfilme, fern romantisch-kitschiger Verklärung. Im Eilschritt bewegt sich Hell, angetrieben von nimmermüder Neugier, darin über schroffe Felsen und unwegsames Gelände. Es heißt, die Bauern, deren Vieh Bodo Hell hütete, sollen den Schriftsteller zuweilen „Geher“ genannt haben.
Es sind Filme, die viel über die Topografie als Kern der Welterfahrung erzählen, Hells Lebensthema für sein Schreiben und seine saisonalen Stadtfluchten auf den Dachstein. „es weint der Weg in mir“, notierte er im Buch „Tracht : Pflicht“ (2003): „es grollt der Pfad“. Den Takt des Lebens bestimmen auf der Alm Fauna und Flora. Es ist ein Alltag der 1000 Handgriffe, der dem abgegriffenen Romantizismus vom Dichter, der auf 1780 Meter Seehöhe seine Bücher schreibt, entschieden entgegenwirkt. „Entweder man tut etwas und tut etwas und tut etwas und tut etwas – oder man tut es nicht“, sagt Hell gegen Ende des Films „Im Augenblick“: „Das ist die Lektion meines Lebens.“ Er habe, bekannte er anlässlich seines 70. Geburtstags, sein Leben ohnehin zweimal gelebt, oben und unten, in der Ebene und am Berg. „Ich feiere im Grunde meinen 140. Geburtstag.“
Das große Erzählwerk, das Bodo Hell seit Langem plante und das bereits Hunderte Notizbücher füllte, bleibt mutmaßlich unvollendet. In „Am Stein“ kommt ein Bewohner der Hochalpenregion zu Wort: „Der Dachstein ist schon gefährlich. Es sind auch Leute verschwunden, die über das Plateau hinaus sind. Man fand sie nicht mehr.“ Eine Frau im Film ergänzt: „Man sollte eigentlich Augen an den Füßen haben, hier oben am Stein.“
Die von der Polizei ermittelten Indizien weisen darauf hin, dass sich Bodo Hell am 9. August frühmorgens womöglich auf eine geplante Weitwanderung begab, deren reine Gehzeit mit bis zu 14 Stunden veranschlagt wird, dazu bis zu 2000 Meter Höhenunterschied: Aufbruch von der Grafenbergalm auf der südlichen Seite des Dachsteinplateaus Richtung Krippenstein und Heilbronnerkreuz bis ins Gebiet Speikberg und Hirschberg, eventuell in die Region der verwaisten Bärenlackenalm und wieder retour ins Landfriedtal über Königreich auf die Grafenbergalm. Ein Marsch durch vorwiegend unwegsames Gelände, durch ein von Latschen und Felsen durchzogenes Areal, samt ungezählten Abzweigungen und Abkürzungen. Am 9. August, einem Freitag, fand auch nachweislich die letzte Sichtung des Schriftstellers statt, im Bereich Loskoppen, südlich vom Heilbronnerkreuz, gegen 11.34 Uhr. Mit einem Schafsucher, der in diesem Bereich unterwegs war, tauschte Hell Telefonnummern, Äpfel wurden gegessen. Die exakte Gehroute Bodo Hells ist indes nicht nachvollziehbar; die Daten und Fakten beziehen sich auf wenige Begegnungen mit Wanderinnen und Wanderern sowie die polizeiliche Auswertung der Mobilfunkdaten.
Anruf bei Annette Knoch, 56, Verlegerin in Graz. Im Droschl Verlag hat Hell, der stets der Faktizität verpflichtete Weltausspäher, zahllose Bücher veröffentlicht, ein poetisches Werk seltener Konsequenz und Kompromisslosigkeit. „Das Warten ist schwer erträglich, es ist entsetzlich“, sagt Knoch. „Wir sind so froh und dankbar, dass die Hilfsmannschaften mit ihrem Einsatz alles Menschenmögliche machten und machen, um Bodo Hell zu finden.“ Gemeinsam mit Droschl-Lektor Christopher Heil besuchte Knoch vergangenen Sommer Hell auf der Grafenbergalm. „Es waren zwei unvergessliche Tage. Bodo ist mit der Dachstein-Landschaft fast verwachsen, viele Bilder bleiben: Bodo beim Käsemachen, die Ziegen, die Lage der Hütte auf der Alm, seine Gastfreundschaft und sein Wissen über alle Details des Lebens in dieser Bergwelt. Das Leben und das Schreiben, das war ein großes Gemeinsames bei ihm.“ Kurze Pause. Dann sagt Knoch, es klingt nach Abschied: „Bodos nie enden wollende Neugier, seine Sprach- und Sprechvirtuosität, seine Genauigkeit und sein unermessliches Wissen, sein Witz, aber auch seine Liebenswürdigkeit, seine Zugewandtheit und Freundlichkeit werden uns sehr fehlen.“ Die große Lücke bleibt.
Der Salzburger Schriftsteller O. P. Zier, 69, traf den abgängigen Autor zuletzt Ende Mai dieses Jahres in Goldegg. „Mit Blick auf den wohl tragischen Verlauf, den sein Vermisst-Sein leider nehmen dürfte, ist für mich ein Detail meines letzten persönlichen Zusammentreffens mit Bodo wesentlich, da sich meine kleine scherzhafte Bemerkung im Nachhinein als drastisch makaber erweist“, schreibt Zier in einem E-Mail: „Nachdem er in einer gefühlt nicht enden wollenden Art vorgestellt worden war, sagte ich zu Bodo: ,Das war keine Einführung, sondern ein Nachruf.‘ Worauf er einen mächtigen Lachanfall bekam.“ Anfang und Ende von Ziers Bekanntschaft mit Bodo Hell hängen übrigens mit Spitalaufenthalten zusammen, ein Umstand, dem Hell wohl einiges an Schmäh und Schalk abgerungen hätte. „Erstmals hörte ich Bodos Namen Anfang 1972 von meinem Bettnachbarn im Spital, einem rührigen Gemeindesekretär aus Taxenbach, der sich für die Rauriser Literaturtage engagierte, in deren Rahmen Bodo zum ersten Preisträger wurde.“ Zier lebte damals in Lend und versuchte vergeblich, per Autostopp nach Rauris zu gelangen. „Jetzt wurde ich gerade aus dem Klinikum Schwarzach entlassen, in dem ich exakt mit Bekanntwerden von Bodos Abgängigkeit wegen dreier kleinerer Schlaganfälle in die Intensivstation kam.“
Im Film „Am Stein“ spricht Hell in die Kamera: „Es gibt Körperphänomene, natürlich, wenn man gut drauf ist und schon lange gegangen ist, oder nach drei Wochen, wenn man hier oben ist, und man fühlt sich ganz gut und läuft und läuft dahin, das ist fast ein euphorischer Zustand, den man dann erreicht, weil man in Einheit mit seinen Kräften ist. Aber nicht nur das. Es ist fast wie ein Tänzeln durchs Gebiet.“ Bodo Hell bleibe der „König vom Dachstein“, sagt „Am Stein“-Regisseur Othmar Schmiderer am Telefon. „Der Dachstein hat ihn zeitlebens nie losgelassen.“ Der Dachstein, steht zu befürchten, lässt Bodo Hell wohl nicht mehr los.