Schriftsteller Gerhard Jäger: Das Leben danach
Anmerkung: Dieser Artikel erschien ursprünglich in der profil-Ausgabe vom 31.10.2016. Lesen Sie anlässlich des Todes von Gerhard Jäger noch einmal die Geschichte um sein beachtliches Romandebüt.
Es ist einer dieser milchig-grauen Nachmittage zwischen Spätsommerende und Herbstbeginn. Gerhard Jäger, 50, lebt in einem roten Haus mit nachträglich angebautem Liftturm. Blick durch die Fensterfront auf einen Wiesenstreifen, in der Ferne der bleistiftspitze Kirchturm der Pfarre Imst, umstellt von spielzeugkleinen Häusern. Chili und Lilly, die Katzen der Jägers, betteln um Futter. Tochter Anna macht Hausaufgaben. "Love“ hat sie sich temporär auf ihren linken Unterarm tätowiert, von einer Herzgirlande gerahmt. "Chili ist ein Sauviech“, lacht Jäger. "Die Katze weiß genau, dass ich im Rollstuhl sitze. Die dreht sich nicht einmal nach mir um, wenn ich schreie.“ Die Szene wirkt fast wie ein Sinnbild seines Lebens: Jäger sucht die Katastrophe des Körperhandicaps mit Humor und herber Herzlichkeit so gut wie möglich zu kontern.
"Wie betrachtet ein Löwe einen Rollstuhlfahrer?“
Jäger sagt gleich vorweg, er sei ein Schriftsteller im Rollstuhl. Kein Rollstuhlfahrer, der den soeben erschienenen Roman "Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“ geschrieben habe. Das ist ein feiner und gleichzeitig großer Unterschied. Jäger macht klar, dass er kein Opfer sein will. Seine schwarzhumorige Art hilft ihm, sich nicht von der Verbitterung des Mitleids anstecken zu lassen. Sein Witz ist echt und ein bisschen rau. "Wie betrachtet ein Löwe einen Rollstuhlfahrer?“, fragt er. Kurze dramaturgische Pause. "Als Essen auf Rädern.“ Er lächelt das bittere Lächeln eines Mannes, der womöglich mehr über das Leben weiß als manch anderer, mehr von den verzweifelten, erschreckenden, aber auch tragikomischen Momenten. Mehr von dem gern vernachlässigten Grundgesetz, wonach das Leben zuweilen von großer Flüchtigkeit ist.
Um einigermaßen zu verstehen, wer Gerhard Jäger ist und wie er denkt, muss man ihm durch sein zweites Leben folgen, das am 13. Dezember 2007 begann, jenem Moment, der alles änderte. "Mein Umfall“, sagt Jäger. "Es war ja kein Unfall, sondern buchstäblich ein Umfallen.“ Ein Wirtshaus im tirolerischen Imst vor knapp zehn Jahren. Jäger, damals Redakteur der " Tiroler Tageszeitung“ und Vater einer wenige Monate alten Tochter, sucht während eines beruflichen Termins die Toilette auf. Auf dem WC erleidet er einen jähen Kollaps. Bis heute ist unklar, was genau an diesem Dezembertag passierte. Jäger hat an den Vorfall keinerlei Erinnerungen. Er erwacht auf dem Boden. Die Nase ist gebrochen, Blut im Gesicht und Blutspuren am Heizkörper. Taubheitsgefühl im ganzen Körper. Jäger kann seine Arme und Beine nicht bewegen. Die Ärzte werden später feststellen, dass zwei Bandscheiben im Halswirbelbereich die Nervenbahnen des Rückenmarks gequetscht haben. Jägers Leben wird auf null gestellt. Es folgen derangierte Tage, qualvolle Wochen, ungewisse Monate, ein trübes Durcheinander. Eineinhalb Monate lang kann Jäger seine Hände nicht bewegen, nach zehn Monaten medizinischer Rehabilitation seine Tochter noch immer nicht in die Arme nehmen. "Ich hatte zuvor nie gröbere körperliche Beschwerden. Mein Umfall traf mich mit der Wahrscheinlichkeit eines umgekehrten Lotto-Sechsers.“
Bis heute leidet Jäger an dauerhaften Lähmungserscheinungen. Essen und Trinken bereiten ihm Mühe. Er kann kein Auto lenken, kein Buch für längere Zeit halten, kein Hemd zuknöpfen. Die Haustür öffnet er mit Fingertippen auf das Display seines an den Oberschenkel geschnallten Mobiltelefons. Statt einer Tastatur steht vor seinem Computer eine Eingabehilfe. "Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“ hat er mithilfe eines Sprachprogramms diktiert. Vor dem Zusammenbruch mit seinen verheerenden Konsequenzen hatte er Kurzgeschichten und einen 800 A4-Seiten starken Roman geschrieben. "Das Buch trägt den Titel, A‘ und ist die Geschichte eines jungen Mannes und seines Zorns auf die Welt“, sagt Jäger. Die Erzählung sei durchaus ausbaubar. "Vielleicht entsteht daraus ja irgendwann ein 26-teiliger Zyklus.“
Eine Wucht von Roman
"Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“ ist ebenfalls eine ziemliche Wucht von Roman, eine verschlungene Geschichte mit vielen Figuren, unterschiedlichen Zeitebenen und abrupten Zeitsprüngen, Geheimniskrämereien, kulturgeschichtlichen Exkursen, mittelgroßen und großen Katastrophen. Erzählt ist das Buch als eine Art kriminalistischer Countdown zum Untergang: Der Exil-Amerikaner John, ein verwitweter Buchantiquar, besucht nach Jahrzehnten wieder seine Tiroler Heimat, um im Innsbrucker Landesarchiv durch die Lektüre vergilbter Polizeiberichte und eines in brüchiges Leder geschlagenen Manuskriptpackens dem ungeklärten Verschwinden seines Verwandten Max Schreiber auf die Spur zu kommen. Er will ein Rätsel lösen, das vor mehr als 50 Jahren seinen Lauf nahm. Es sind die "letzten Schritte“ des 80-Jährigen auf dem "Weg zu einem Geheimnis“, das der "alte Narr“ lösen will.
"Schreibers Manuskript“ - so der Buch-im-Buch-Titel von Johns Lesestoff - besteht aus vier Teilen: "Der Schnee“, "Das Feuer“, "Die Schuld“ und "Der Tod“. Jäger schubst seinen grau gewordenen Helden John in ein sich langsam verschärfendes Chaos, in dem Leben und Erinnerung auf wankenden Grund geraten und sich schleichend ein Gefühl der Finalität breitmacht. Geschickt verschnürt Jäger die zahlreichen Handlungsfäden und wechselt zwischen den Erzählstimmlagen. Der Ich-Erzähler John berichtet in fast schon gehetzter Direktheit von den Ereignissen, während Schreibers ausufernder Bericht über seine Forschungsreise in ein abgelegenes Tiroler Bergdorf den Sound der 1950er-Jahre atmet: "Ich kam frisch aus dem Studium und dann das hier, das Ende der Welt.“ Das höchste Maß an Abwechslung sind im Dorfgasthaus drei statt der obligaten zwei Bier.
"Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“ ist ein beachtliches Debüt, auch wenn der Roman bisweilen zu Geschwätzigkeit und schiefen Bildern neigt: Schreibers Augen suchen beispielsweise die Straße wie "zwei tolle Hunde“ ab, und Wetterstürme toben wie aus einem "weit geöffneten Mund“. Jägers Faible für Wortwiederholungen erzeugt zuweilen unnötige Längen: "Er kotzt und kotzt und kotzt.“
Warum kam das Unglück über Jäger? Weshalb ausgerechnet er? Falsche Frage. Jägers Blick sagt: keine gute Idee, hier übereilte Schlussfolgerungen treffen zu wollen. Man verfängt sich bald in unsinnigen Hätte-wäre-könnte-Spiralen. Hätte ich an diesem verfluchten Tag. Wäre ich doch nicht. Könnte ich nur. Es geht nicht um das Ob, das Wie und das Warum. Man ist, wenn man über die Ursachen und Folgen jenes Abends Mitte Dezember nachdenkt, mittendrin im Unbegreiflichen. Jägers Umfallen? Eine mit kühler Grausamkeit servierte Laune des Lebens. Die Nachwirkungen? "Ich war von Beginn an ein talentierter Rollstuhlfahrer“, kichert Jäger. "Auf den Mount Everest wollte ich ohnehin nie marschieren, und ein fauler Sofahund war ich schon früher.“ Nur jemand, der über zwei Leben verfügt, kann den Schrecken mit solch hakenschlagenden Pointen meistern.