Verzweifeln Sie zuweilen an der Ausschließlichkeit schlechter Nachrichten?
Michael Köhlmeier
Durchaus. Es gibt diese Sehnsucht nach der Idylle, und sei es nur die Meldung, dass aus dem Donaukanal ein Hund gerettet worden ist.
Schön wär’s.
Michael Köhlmeier
Der Overkill an negativer Berichterstattung führt bei mir dazu, dass ich an Weltdepression laboriere, was wiederum zu einer Art Desinteresse führt, das in Weltaggression mündet.
Sie sind 74. Ältere Menschen behaupten gern, so schlimm war’s früher nicht. Darf man das?
Michael Köhlmeier
Unsere Elterngeneration, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt hatte, behauptete das. In den vergangenen Jahren kam es aber zu einer Häufung an Hiobsbotschaften, zu Pandemie und Kriegen. Unterdessen herrscht zumindest in der westlichen Hemisphäre seit Jahrzehnten Frieden. Der Weltgeist erachtet uns einer Katastrophe offenbar für unwürdig, wodurch die untergründige Sehnsucht nach genau einer solchen mitschwingt, damit sich die Weltenlangeweile endlich auflöse, um wieder Sinn ins Leben zu bringen.
Wie darf man das verstehen?
Michael Köhlmeier
Vieles am Heute erinnert an die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Damals wurden vernünftige Menschen wie Thomas Mann oder die Philosophin Edith Stein von maßlosem Jubel ergriffen: „Endlich eine Erlösung!“ Man fragt sich: Wovon denn nur? Es war die Befreiung vom Weltenüberdruss! In Wahrheit wurde um diese Zeit nämlich alles besser. Stefan Zweig schrieb, er könne von Schweden bis ans Schwarze Meer reisen, ohne ein einziges Mal den Reisepass vorzeigen zu müssen.
Wie zeigt sich die Weltenlangeweile, von der Sie sprechen?
Michael Köhlmeier
Man blickt in den Himmel, sieht die Sterne, zuckt mit den Schultern, sagt: „Na und?“ In uns ist viel Weltenmüdigkeit, metaphysische Langeweile. Was bedeutet Sinn, verstanden als gesellschaftliches Phänomen?
Verraten Sie es uns.
Michael Köhlmeier
Sinn wird generiert, wenn ich mich als Individuum nicht isoliert fühle, wenn ich das Gefühl habe, ich nehme an etwas Allgemeinem teil, das über mich hinausreicht. Dieses Gefühl ging 1914 verloren – und blieb bis heute auf der Strecke. In den vergangenen Jahren nahm ich viel Verdruss und Überdruss wahr.
Nähern wir uns der Bruchkante einer Epoche?
Michael Köhlmeier
Ich glaube schon, bleibe aber skeptisch. In meinem Leben stellte sich wiederholt das Gefühl ein, etwas Neues, Ungeahntes beginne. Dahinter lauern Ängste und Sehnsüchte. Die Angst vor dem Alten, die Hoffnung auf Neues. Die Zeit des Friedens und Wohlstands führte zu einer verstärkten Gewichtung des Individuums – und zur, wenn man so will, Entwichtung des Gesellschaftlichen. Das Ich benötigt die Gesellschaft nicht mehr.
Die Politik ist aber ein zutiefst gesellschaftlicher Faktor.
Michael Köhlmeier
Sie greift in das Leben vieler Menschen überhaupt nicht mehr ein. Es kann für uns nicht genügen, einzig Individuum zu sein. Der gesellschaftliche Bestandteil beginnt in langen Zeiträumen des Friedens und Wohlstands offenbar zu schrumpfen, er hat einzig Hobbycharakter: Ich bin ein Fan dieser Popgruppe, ich bin Vereinsmitglied.
Gleichzeitig sehnen sich viele nach einer besseren Welt.
Michael Köhlmeier
Im Vergleich zur westlichen Welt ist das Schlaraffenland ein Lercherlschas, ein Furz im Wind. Zeigte man einem Schlaraffenlandbewohner einen beliebigen Supermarkt, er käme aus dem Staunen nicht heraus: Man kann Früchte genießen, die am anderen Ende der Welt geerntet wurden? Das darf doch nicht wahr sein! Die Versprechungen und Utopien der jüngeren Vergangenheit haben sich mehr als erfüllt – wieso ist da noch Platz für Unzufriedenheit und Langeweile?
Wir langweilen uns zu Tode?
Michael Köhlmeier
Der gemeine Trick der Langeweile besteht darin, sich hinter einem harmlosen Wort zu verbergen. Es gibt aber eine existenzielle, fast metaphysische Form der Langeweile! Georg Lukács schrieb von der „metaphysischen Heimatlosigkeit“, die entsteht, wenn ich mich an nichts Größeres angeschlossen fühle. Es gibt wenige Menschen, die mit sich allein auskommen, die wiederum postwendend für verschroben oder gleich verrückt erklärt werden.
Was sind wir für komische Wesen!
Michael Köhlmeier
Wir sind gesellschaftliche Charaktere. Im Augenblick haben wir im Westen eine Schräglage zugunsten des Individuellen zu bewältigen.
Es heißt, wir alle seien Kinder unserer Zeit. Sind wir auch Idioten unserer Gegenwart?
Michael Köhlmeier
Was ist ein Idiot? Im griechischen Sinne ist das ein Mensch, der sich jeglicher Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verweigert. Als Kinder des allumfassenden Wohlstandes werden wir allmählich zu Idioten.
Zurück zu den Nachrichten: Was bringt Sie dieser Tage in Rage?
Michael Köhlmeier
Fassungslos machten mich die Reaktionen auf den Terrorismus der Hamas, die Demonstrationen pro Palästina. Das hat überhaupt nichts damit zu tun, dass man die israelische Regierung kritisiert. Nirgendwo wurde derart intensiv gegen die israelische Regierung demonstriert wie in Israel selbst! Erst kürzlich forderten in Jerusalem Demonstranten den Rücktritt von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.
Bei einer Gedenkveranstaltung für die von der Hamas entführten israelischen Geiseln auf dem Wiener Heldenplatz wurde kürzlich ein Text von Ihnen vorgelesen. Anschließend wurde Kritik laut, dass Sie mit keinem Wort die Palästinenser erwähnt hätten.
Michael Köhlmeier
Das wäre gerade so, als ginge man zur Witwe und teilte ihr mit, dass der Mörder ihres Mannes eine miserable Kindheit hatte, und das, bevor man ihr das Beileid ausgesprochen hat! In London, Berlin und Wien wurde für die Palästinenser demonstriert – und nicht für die Israelis.
Ist unser moralischer Kompass defekt?
Michael Köhlmeier
Dieser Kompass richtet sich nach ökonomischen, politischen und sonstigen Situationen. Wir wissen, wie schnell er seinen Zielpunkt wechseln kann: Einerseits sehnen wir uns in all unserer Weltverdrossenheit nach Abenteuer und Katastrophenszenarien. Andererseits suchen wir, sollten die erhofften Abenteuer eintreten, einen Schuldigen. In Lessings Theaterstück „Nathan der Weise“ wird das ausgesprochen: „Macht nichts, der Jude wird verbrannt.“ Sobald das Menschsein selbst angezweifelt wird, dreht jeglicher Kompass durch.
Israel hat jedes Recht, sich gegen den Terror der Hamas zur Wehr zu setzen. Es ist zugleich zutiefst menschlich, angesichts der vielen getöteten Zivilisten in Gaza ein Ende des Krieges zu fordern. Was also tun?
Michael Köhlmeier
Man muss immer beide Seiten betrachten, sich der Opfer erbarmen. Jedes Aufrechnen bleibt dagegen äußerst zweifelhaft: Es sind „nur“ so viele Kinder in Israel ums Leben gekommen, dafür umso mehr in Gaza. Wenn derjenige recht behielte, der mehr Opfer zu beklagen hat, dann hätte Hitler nach dem Zweiten Weltkrieg, der auf deutscher Seite zahllose zivile Opfer gefordert hatte, den moralischen Sieg davongetragen. Grauenhaft!
Seit 70 Jahren herrscht in Nahost der Ausnahmezustand. Ist der Konflikt je zu lösen?
Michael Köhlmeier
Es gilt, jeden Vorschlag zu überdenken. In den 1980er-Jahren besuchte ich Irland, wo mir ein sagenhafter Hass gegen England entgegenschlug. Damals diskutierte ich mit Linken, die mir ernsthaft andeuten wollten, Hitler habe auch Gutes geleistet. Ich erwartete „die Autobahnen“ als Antwort. Tatsächlich fiel die Bemerkung, er habe London bombardieren lassen! Der Hass war abgrundtief. Friede herrschte erst, als Irland und England in der EU waren, auch wenn sie einander noch immer nicht sonderlich mögen. Es werden aber keine Sprengsätze mehr gezündet, aus deren Hinterlassenschaft man Schwimmbäder machen kann.
Israel und Palästina sollten EU-Mitglieder werden?
Michael Köhlmeier
Steht man in der Mathematik vor einem rechnerischen Dilemma, ist eine höhere Ebene anzustreben. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist primär eine europäische Angelegenheit. Der Einwand, Israel gehöre zu Asien, verfängt nicht. Jerusalem liegt näher an Brüssel als Honolulu bei Washington. Heutzutage eine politische Konstellation rein geografisch zu begründen, entspricht reiner Rückwärtsgewandtheit. Historisch betrachtet ist der gesamte Mittelmeerraum näher an Europa als Norwegen und Schweden. Europa war im Mythos eine kleinasiatische Prinzessin.
Ihr Vorschlag dürfte derzeit reines Zukunftsdenken sein.
Michael Köhlmeier
Zumindest auf Ebene der Unterhaltungsindustrie bewegt sich etwas. Israel ist Teil des Song-Contest-Zirkus und nimmt wie selbstverständlich an europäischen Sportwettbewerben teil. Wieso verhält sich der Song-Contest politisch aufgeklärter als die EU-Institutionen?
Im Begriff des Parlaments steckt die Unterredung, abgeleitet vom französischen parlement oder dem italienischen parlare. Kann das Miteinander-Sprechen in einem um Israel und Palästina erweiterten EU-Parlament ein Garant für fortgesetzten Frieden sein?
Michael Köhlmeier
Der dümmste Satz der Menschheitsgeschichte lautet: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ Reden, reden, reden, sich den Mund fusselig reden! Nur weil die meisten EU-Staaten dagegen sind, sich einen solchen Konfliktherd einzuverleiben, heißt das nicht, dass man nicht darüber reden sollte.
Wie sehr sind Sie vom Antisemitismus von links angewidert?
Michael Köhlmeier
Ich erinnere mich an den extremen Anti-Zionismus der späten 1960er-Jahre. Von sämtlichen Befreiungsbewegungen weltweit hat sich die Linke am meisten in die palästinensische verknallt. Schleichenden Antisemitismus hat es innerhalb der Linken immer gegeben, weil Juden mit Kapital und Geld gleichgesetzt wurden. Die Nazis unterschieden zwischen bösem „raffenden“ und gutem „schaffenden Kapital“. Die Linke hat dies ebenfalls mehr oder weniger stillschweigend mit dem Judentum identifiziert. Daher rührt der latente linke Antisemitismus.
Die sozialistische Jugend Vorarlberg wandte sich in einem Post gegen die „himmelschreiende Heuchelei des Imperialismus und seiner Lakaien“.
Michael Köhlmeier
Wer die Hamas nach diesem Massaker als Befreiungsbewegung bezeichnet, hat nicht alle Tassen im Schrank.
Es ist bereits die Rede vom „Aber-Antisemitismus“, der den Hamas-Terror rechtfertigt oder wenigstens relativiert.
Michael Köhlmeier
Das ist an Geschmacklosigkeit nicht zu überbieten und wird dadurch verschärft, dass dieses Aber-Gefasel als Analyse verkauft wird. Dem „aber“ haftet banales Aufrechnen an: Man hat dir dein Auto geklaut – aber du hast immerhin ein Auto. Es ist hoch an der Zeit, dass auch der Dieb endlich ein Auto hat! Das Wort „und“ bringt Zusammenhänge auf dieselbe Ebene. „Ja, aber“ besagt: Der Sprecher will am Ende recht haben.
Was versteckt sich noch hinter diesem „Ja, aber“?
Michael Köhlmeier
Antisemitismus braucht ein Schutzschild, das besagt: Ich tu Gutes. Kein Teilnehmer dieser unsäglichen Demonstrationen, die ein Palästina vom Jordan bis zum Meer fordern und damit Israel jedes Existenzrecht absprechen, würde brüllen: „Ich hasse Juden!“ Man demonstriert für die gute Sache, also für Palästina. Am Ende ist es aber Antisemitismus, der sich zeitweilig als Anti-Zionismus und Anti-Judaismus tarnt, was alles dieselbe gärende Sauce ist. Dass nach Auschwitz ein derart genozidaler Gedanke aufkommt, dem Applaus in der ganzen Welt zuteilwird, hielt ich für undenkbar.
Seit 40 Jahren schreiben Sie Bücher. Kann Literatur etwas zum Guten wenden?
Michael Köhlmeier
Dieser Illusion hing man an, als man vor Unzeiten über das Burgtheater bemerkte, hier hause das Wahre, Schöne und Gute. Das denkt im 20. Jahrhundert niemand mehr. Man weiß aus den Tagebüchern von Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß, wie sehr er Mozart und Schubert liebte, mit seinen Kindern und dem Hund spielte. Dann ging er zur Arbeit und ermordete Menschen.
Worauf hoffen Sie angesichts der angespannten Weltlage?
Michael Köhlmeier
Aufs Parlare. Aufs Reden.
Der große Philosoph Karl Valentin bemerkte, man soll die Dinge nicht so tragisch nehmen, wie sie sind.
Michael Köhlmeier
Wir sehen die Dinge manchmal tragischer, als sie sind. Die Tragödie spendet Sinn, die Komödie nicht.