Schriftstellerin Ilse Aichinger: Aufruf zum Misstrauen

Vor 100 Jahren wurde Ilse Aichinger geboren. Es ist höchste Zeit, das einmalige Werk der Wiener Autorin wiederzuentdecken.

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Man traut sich kaum, es hinzuschreiben: Vor 100 Jahren, am 1. November 1921, wurde Ilse Aichinger in Wien geboren – jene Autorin, deren Bücher bis heute rätselhaft alterslos erscheinen, so dringlich wie gültig.

Gelesen wird Aichinger, die 2016 starb, leider nur mehr wenig, dabei hielt mit dieser Literatur der kleinen, stets äußerst exakt gesetzten Schritte einst die literarische Moderne in Österreich Einzug: Aichinger erneuerte im anbrechenden Zeitalter des Verschweigens und Verdrängens die Möglichkeiten des Erinnerns und Erzählens – was ihr hierzulande kaum jemand dankte. Ihr einziger Roman – „Die größere Hoffnung“, eine Erzählung über rassistisch verfolgte Kinder während der Zeit des Nationalsozialismus, noch immer ihr bekanntestes Buch – erschien 1948.

Immerhin gibt es zum 100-Jahre-Jubiläum einiges neu zu sehen und zu lesen: Auf der Wiener Schwedenbrücke wird Anfang November ein Erinnerungszeichen in Form eines Aichinger-Gedichts eröffnet werden; 1942 musste sie hier zusehen, wie drei ihrer Verwandten deportiert (und kurz darauf ermordet) wurden. Im gerade publizierten „Ilse Aichinger Wörterbuch“ (Wallstein) wird die Wort-Welt der Autorin neu vermessen – von Atlantik bis Zwilling.

Der Band „Aufruf zum Mißtrauen“ in Aichingers Stammverlag S. Fischer versammelt die verstreuten Publikationen zwischen 1946 und 2005 der ingeniösen Verzettelungskünstlerin. Und der in New York lehrende Literaturwissenschafter Thomas Wild widmet sich in „ununterbrochen mit niemandem reden“ (ebenfalls bei S. Fischer) einer so extensiven wie ergiebigen Aichinger-Relektüre. Etwas, was wir schleunigst alle machen sollten.