Martin Scorsese (Mitte) mit Al Pacino (links) und Robert De Niro (rechts)

Totenstille: Martin Scorseses grandioses Mafia-Epos „The Irishman“

Die New Yorker Regielegende Martin Scorsese beweist mit der Netflix-Produktion „The Irishman“ noch einmal ihre einsame Klasse. Das dreieinhalbstündige Werk beeindruckt nicht nur als meisterhaft erzähltes Mafia-Epos, sondern auch als Meditation über das nahende Ende.

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Es war möglicherweise nicht mehr nötig, erneut zu demonstrieren, wie sehr der alte Meister aus Little Italy auch 2019 noch auf der Höhe seiner Kunst zu arbeiten vermag. Aber man muss gesehen haben, mit welcher Souveränität Martin Scorsese diese neue Vorführung seiner intakten Schlagkraft, die er „The Irishman“ genannt hat, bewältigt. Gerade ist der US-Regisseur 77 Jahre alt geworden. Andere Menschen seines Alters haben sich längst in die Beschaulichkeit der späten Jahre verabschiedet; er dagegen hat allein in den vergangenen zehn Jahren drei Dutzend Filme und zwei Serien („Boardwalk Empire“ und „Vinyl“) produziert sowie als Regisseur – neben vier dokumentarischen Werken und einer abgründig schillernden Bob-Dylan-Mockumentary („Rolling Thunder Revue“) – fünf große Spielfilme vorgelegt.

Auf den Psychiatriethriller „Shutter Island“ (2010) und das Early-Cinema-Märchen „Hugo“ (2011) folgten der kokainbeschleunigte Börsenkrimi „The Wolf of Wall Street“ (2013), das japanische Missionarsdrama „Silence“ (2016) und nun eben die Mob-Erzählung „The Irishman“. Zwischen 160 und 200 Millionen Dollar soll die Produktion verschlungen haben. Scorsese hat sie für die Streaming-Plattform Netflix realisiert, weil keines der traditionellen Hollywoodstudios daran glaubte. Seit dem 27. November ist die Produktion im Netz abrufbar; limitierte Kinoeinsätze im Vorfeld hat der Online-Gigant immerhin genehmigt (nicht zuletzt im Hinblick auf die in den USA nur so zu gewährleistenden Oscar-Chancen) – „theatrical window“ lautet der schöne Fachbegriff dafür. Auch in Österreich hat sich das Kinofenster weit geöffnet: in den Wiener Kinos Gartenbau und Burg läuft der Film bereits seit Freitag vergangener Woche, genau zwei Wochen lang; in Linz, Innsbruck, Graz, Wels, Villach und Feldkirch ebenso. Man muss diesen kurzen Filmstart betonen, denn die erhöhte Konzentration in einem Kinosaal zahlt sich gerade in diesem Fall aus.

Pacino (rote Krawatte) und De Nero

Die kunstvoll verschachtelte Haupterzählung des „Irishman“ Frank Sheeran, den es (wie die meisten anderen Figuren dieses Films) tatsächlich gab, führt von den 1950er-Jahren bis in die 1990er-Jahre. Dreieinhalb Stunden Laufzeit nimmt der Film in Anspruch, aber zu spüren ist diese Länge keineswegs. Sheerans Laufbahn vom Mafia-Faktotum, das erst Auftragsmorde begeht, zum Vertrauten des korrupten Gewerkschaftsführers Jimmy Hoffa und zum Ehrenbürger der New Yorker Cosa Nostra wird, ist der rote Faden dieser in unzählige Richtungen und Details abzweigenden Erzählung. Hoffa führt seine „Teamsters“, die nordamerikanische Transportarbeitergewerkschaft, mit besten Beziehungen zum Mob. Sein eigenes, bis heute ungeklärtes Verschwinden im Juli 1975, auch davon berichtet „The Irishman“, ging wohl auf das Konto der Mafia. Der Mann blieb ein Rätsel: James Riddle Hoffa trug seinen zweiten Vornamen offenbar nicht ganz zu Unrecht.

Preisverwöhnt: Martin Scorsese, für sein Lebenswerk ausgezeichnet beim Lumière Film Festival in Lyon, Oktober 2015

Mit einer bedächtigen Kamerafahrt durch die Korridore eines Altersheims, umspielt von einem alten Doo-Wop-Schlager, beginnt „The Irishman“, in der klassischen Handschrift Scorseses. Die sanfte Bewegung führt auf den Titelhelden zu: einen einsamen alten Mann, der sich mit übellaunigem Gesicht an seine kriminelle Karriere erinnert. Er beginnt zu erzählen, wie das alles war, wie eins zum andern kam – und er spricht wie zu sich selbst, oder auch: zu uns. Es ist Robert De Niro, der mit seinen Worten die erste Rückblende aktiviert, in eine Zeit, da der Vereinsamte ein junger Mann, ein Kriegsheimkehrer war. Auch diesen spielt De Niro, 76, selbst, und dies war nur mit jenem Special-Effect möglich, den Hollywood derzeit am meisten liebt: dem digitalen Entalterungsprozess via De-Aging. „The Irishman“ ist der erste Film, in dem diese kostspielige Technologie nun flächendeckend eingesetzt wurde – und die Illusion ist annähernd perfekt. Es sei insbesondere kompliziert, die Augen der Darsteller jung aussehen zu lassen, hat Scorsese dargelegt; auch seine anderen beiden Hauptdarsteller sind hochbetagt: Joe Pesci ist 76, Al Pacino wird im kommenden April 80.

Barszene mit den digital verjüngten Akteuren Robert De Niro und Joe Pesci

Nach fünf großen Spielfilmen mit Leonardo DiCaprio knüpft Scorsese nun also auch personell an seine früheren Hauptwerke an; speziell die Rückkehr zu Robert De Niro, der hier auch als Koproduzent firmiert, sorgte in der Fankurve für Vorab-Erregung: Es ist bereits die neunte Zusammenarbeit der beiden, aber – wenn man die kurze Komödie „The Audition“ (2015), in der De Niro und DiCaprio erbittert um eine Scorsese-Hauptrolle konkurrieren, nicht mitzählt – die erste seit 24 Jahren, seit „Casino“ (1995). Der Umstand, dass Scorsese und De Niro so lange nicht miteinander gedreht haben, geht übrigens nicht auf ein Zerwürfnis zurück. Der eine wollte sich um die Jahrtausendwende neu orientieren, der andere etwas weniger anstrengende, dafür lukrativere Jobs an Land ziehen.

Scorsese in Action

Al Pacino spielt sich als der aufbrausende Hoffa wie gewohnt die Seele aus dem Leib, und De Niro mobilisiert eine seit zweieinhalb Jahrzehnten nicht mehr gesehene darstellerische Subtilität. Harvey Keitel, der bereits in den 1960er-Jahren mit Scorsese arbeitete und in „Mean Streets“ (1973) einen der zentralen Parts übernommen hatte, taucht in einer Nebenrolle auf – zu kurz leider, um entscheidend mitspielen zu können. Aber es ist Joe Pesci, der in vielen Momenten dieser Inszenierung seinen prominenten Mitspielern die Show stiehlt. 40 Mal habe er Scorseses und De Niros Anfragen abgewiesen, er sei im Ruhestand, bitte nicht mehr anrufen. Erst die Hartnäckigkeit seiner Kollegen und ein gerüchteweise deutlich erhöhtes Honorarangebot ließen Pesci nach einem knappen Jahrzehnt der Kinoabwesenheit auf die Leinwand zurückkehren. Es hat sich gelohnt: Pescis schwelendes, gefährlich gelassenes Spiel als Mafiaboss wird in Erinnerung bleiben.

Momente aus dem Film mit den digital verjüngten Akteuren Joe Pesci und Robert De Niro

Das Buch „I Heard You Paint Houses“, das der Anwalt Charles Brandt 2004 veröffentlichte, ist die Vorlage des Films. „Painting houses“, so wird eingangs geklärt, steht in Mafiakreisen nicht etwa für den sachgerechten Wandanstrich, sondern für die sich aus Kopfschüssen in Innenräumen ergebende obszöne Aktionswandmalerei aus Blut und Hirnmasse. Der Kalifornier Steven Zaillian, der bereits das Drehbuch zu Scorseses „Gangs of New York“ (2002) und unter anderem „Schindlers Liste“ (1993) für Steven Spielberg schrieb, zieht nicht nur die komplex gebaute, zwischen den Zeiten springende Handlung dramaturgisch korrekt durch, auch seine Dialoge sind von verblüffend scharfem Witz.

Scorsese schreibt die Geschichten, die er verfilmt, nicht selbst, er definiert sich – ganz im klassischen Sinn, wie John Ford, Howard Hawks oder Raoul Walsh – als Regisseur. Die wenigen Writing-Credits, die sich in seiner Werkliste finden, verzeichnen in fast allen Fällen nur seine Co-Autorenschaft neben einem jeweils federführenden Drehbuchprofi. Die letzten Werke, die Scorsese allein geschrieben hat, datieren aus den 1960er-Jahren: Es waren seine Studentenkurzfilme.

Goodfellas" (1990) Ein Meisterwerk zur Mafia-Gewalt. Im Bild: Scorsese dreht im New Yorker Stadtteil Queens

In der Kinolandschaft der Gegenwart, die nur noch in Fantasy und Superhelden denken zu können scheint, wirkt Martin Scorsese wie ein Fossil. Erst unlängst erregte er in Hollywood einigen Unmut, als er erklärte, für ihn seien die digitalen Kinoexzesse etwa der Marke Marvel „mehr Freizeitparks als Filme“. Er sehe die grassierenden superhero movies bei allem Talent, das auf sie verschwendet werde, als risikolose, überdesignte Konsumprodukte, zu Tode evaluiert und getestet, ohne individuelle künstlerische Vision. Sie hätten jedenfalls nichts mit jenem Kino zu tun, das er meine, wenn er den Begriff verwende. Denn dieses habe stets mit einer Art der „Offenbarung“ gearbeitet: mit ästhetischer, emotionaler und spiritueller Offenbarung. Und es habe von der Komplexität und Widersprüchlichkeit menschlicher Charaktere gehandelt. Dies gilt ohne Abstriche auch für seinen neuen Film, der bei allen Schauwerten und formalen Manövern auch eine pragmatische Seite hat.

Denn natürlich denkt Scorsese mit, dass „The Irishman“ vor allem auf Home-Monitoren gesehen werden wird; er löst seine Geschichte in meist nahe und halbnahe Einstellungen auf, verzichtet weitgehend auf Panorama-Ansichten: „The Irishman“ ist, wenn man so will, eine Fernsehproduktion auf allerhöchstem Niveau.

Scorsese dreht "The Irishman"

Es ist interessant, zu sehen, dass Scorsese seit erstaunlich langer Zeit nur noch historische Materialien bearbeitet: Man muss, wenn man die in einer jeweils nahen Vergangenheit spielenden Thriller „The Departed“ (2006) und „Bringing Out the Dead“ (1999) außer Acht lässt, in Scorseses Werkliste schon sehr weit zurückgehen, um einen Gegenwartsstoff zu finden: „After Hours“ (1985) war einer der wenigen. Das Grundvertrauen auf das gut abgehangene Alte bedeutet in seinem Fall jedoch keineswegs Rückwärtsgewandtheit. Scorseses „Irishman“ wirkt nicht wie aus der Zeit gefallen, eher wie die staunenswerte Wiederkehr eines zu lange verdrängten, latent stets präsent gewesenen Kinos. (Todd Phillips’ düstere „Joker“-Hommage hat die langfristige Aktualität der Scorsese’schen Motivik gerade erst bewiesen.) Zu diesem Zweck hat Scorsese seine alte Garde auch abseits der Darsteller noch einmal rekrutiert. Die wichtigste seiner Langzeitpartnerschaften ist wohl jene mit der Cutterin Thelma Schoonmaker, die ihm 1967 („Who’s That Knocking at my Door“) erstmals kreativ beistand und seit „Raging Bull“ (1980) für den nervösen Puls all seiner Spielfilme sorgt; sie wird in wenigen Wochen 80.

"Raging Bull" (1980). De Niro und Pesci, als sie tatsächlich noch jung waren. Foto von den Dreharbeiten zu Scorseses Boxerdrama

Am Ende ist „The Irishman“ aber kein Krimi, sondern ein Film über das Alter und den nahenden Tod. Es ist vor allem die letzte Stunde dieser Erzählung, in der Scorsese etwas gänzlich Überraschendes gelingt. Wer etwa vermutet hatte, die digitalen Anti-Aging-Strategien für die schauspielenden Superstars könnten auch ihrer Eitelkeit gedient haben, wird im Finale eines Besseren belehrt. Ein zahnloser Joe Pesci und ein vom Alter kaum weniger verwüsteter Robert De Niro treten da in Szene.

Nach all den faulen Triumphen, all den Menschenleben, die ihre Figuren bedenkenlos nahmen, als könnten sie Schicksal spielten, werden sie zu hilflosen Figuren, zu Greisen. Die Technologie des De-Aging ergibt nirgendwo so viel existenziellen Sinn wie in diesem der Unabwendbarkeit des Todes gewidmeten Film.

"Taxi Driver" (1976) Scorseses berühmtester Film: De Niro, hier mit der 13-jährigen Jodie Foster, als sich radikalisierender Privatkrieger

Der Fifties-Hit „In the Still of the Night“ ist das passende Leitmotiv dieser Erzählung. Die Sentimentalität und romantische Tönung der Komposition der Five Satins stehen in markantem Kontrast zur Brutalität, mit der die Protagonisten in „The Irishman“ ihrem Tag- und Nachtwerk nachgehen – aber man könnte den Song auch als Kritik am nostalgischen Verhältnis, das die alten Männer zu ihrer mörderischen Profession haben, oder am falschen Glamour, an der dubiosen gesellschaftlichen Verklärung der Mafia verstehen. Martin Scorsese mag mit seinen faszinierenden Mobster-Filmen seit Jahrzehnten daran Anteil haben; aber die Totenstille, die über den besten Szenen seiner neuen Arbeit liegt, zeigt auch, dass es ihm ernst ist mit seiner Distanz zum Horror des organisierten Verbrechens.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.