Roman-Kritik: "Sieben Nächte" von Simon Strauß
Der Sohn von Botho Strauß hat ein Manifest geschrieben. Ein Manifest wider die Alltäglichkeit des Seins, wider die Mechanik unserer Zeit. Ein leidenschaftliches Plädoyer für die Rückkehr des Gefühls, für die Jagd nach besonderen Momenten jenseits von gut und böse, richtig und falsch, vernünftig und unvernünftig. Ein Bekenntnis zu einer Form „wilderen Denkens“, das genau dort ins Treffen tritt, wo das Kalifat der Kontore aufhört seine Wirkung zu entfalten, wo das Staunen beginnt und das Gefühl anfängt zu regieren.
„Aus Angst vor dem fließenden Übergang“, vor dem allzu planvollen Erwachsenwerden, entschließt sich der noch nicht ganz dreißigjährige Ich-Erzähler in Sieben Nächte dazu, mit einem namenlosen Gefährten eine Art faustischen Pakts einzugehen:
„Immer um sieben Uhr Abends würde er sich melden und mich auf einen Streifzug schicken durch die Stadt. Immer würde ich einer Sünde begegnen, einer der sieben Todsünden. ‚Auf dass du eine findest, in der du dich wohlfühlst. Oder dich für immer von ihnen abkehrst’, hat er gesagt. Eine Nacht lang hätte ich Zeit nach dem Sturm zu suchen, ihn selbst zu entfachen. Aber wenn der Morgen graute, müsste ich geschrieben haben. Bis sieben Uhr früh sieben Seiten, jedes Mal.“
Rausch des poetischen Widerstands
Und so überlässt sich unser Protagonist in sieben sprachgewaltigen, höchst kunstvoll arrangierten Miniaturen, die zwischen schwärmerischer Reflexionsprosa und ernüchterter Gesellschafts- und Generationenkritik changieren, einem herrlich zu lesenden Rausch des poetischen Widerstands, der seine Überzeugungskraft gerade daraus entfaltet, dass er weniger durchdacht als tief empfunden ist – den prallen Fässern des Lebens wie seinen verbotenen Untiefen in langen Nachtwachen abgezapft.
Simon Strauß, Jg. 1988, promovierter Altertumswissenschaftler und mittlerweile profilierter Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, fühlt sich berufen, uns noch nicht Dreißigjährigen, die wir noch nie eine geistige Revolution, geschweige denn einen handfesten Krieg mitgefochten haben, unbarmherzig den Spiegel vorzuhalten und uns an die Träume und hochtrabenden Pläne unserer frühen Jugend zu erinnern, die wir in all der selbstverschuldeten Hektik zwischen dem Abitur, dem ECTS-durchhechelten Studium und der ersten Festanstellung schlichtweg vergessen haben zu realisieren – die sang und klanglos untergegangen sind im Datenmoloch unserer virtuell eindrucksvoll in Szene gesetzten Existenz. Es ist das „dumpfe, wehleidige Gefühl, zu spät geboren zu sein, in Zeiten zu leben ohne Arien und Rausch“, das das alter ego Strauß’ Nacht für Nacht hinaustreibt, um das Abenteuer zu suchen und dabei sich selbst zu finden.
Die Welt muss wieder romantisiert werden
Dabei ist das schlanke Büchlein frei von frechem Hochmut und Selbstüberhöhung. Die Rilkesche Mahnung „Du musst dein Leben ändern“ richtet der Autor zuvorderst an sich selbst. Das Benn’sche Motto von der „Leere“ und dem „gezeichneten Ich“ (dem ersten Kapitel vorangestellt) ist als ernsthafter Aufruf zur Rückeroberung der Reiche der Phantasie und des Glaubens zu lesen: Die Welt muss wieder romantisiert werden. Noch ist es für unsere Generation nicht zu spät – so der Tenor dieses wunderbar wohltuenden, weil aufrüttelnden Initiationsbuches – das Leben zu führen, das uns zusteht. Ein Leben des Stolzes ohne falsche Demut, der Freiheit ohne Zwang, der Berufung jenseits von platter Zweckmäßigkeit und hohler Ordnung.
Und so ergeht Strauß’ donnernder Ruf an all die Ernüchterten und Enttäuschten, all die Träumer und verkappten Romantiker, die Sehnsüchtigen und die Trotzigen, wie es schon Ernst Jünger 1929 als Vierunddreißigjähriger in der hochromantischen Erstfassung seines Abenteuerlichen Herzens propagierte:
„Seien wir auf der Hut vor der größten Gefahr, die es gibt – davor, daß uns das Leben etwas Gewöhnliches wird. Welcher Stoff zu bewältigen ist und welche Mittel zur Verfügung stehen – jene Wärme des Blutes, die unmittelbar Fühlung nimmt, darf nicht verloren gehen. Der Feind, der sie besitzt, ist uns wertvoller als der Freund, der sie nicht kennt. Glaube, Frömmigkeit, Wagemut, Begeisterungsfähigkeit, liebevolle Bindung an irgend etwas, sei es, was es auch sei, kurz alles, was durch diese Zeit haarscharf als Dummheit nachgewiesen ist – überall, wo wir das spüren, geht der Atem leichter, und sei es im beschränktesten Kreis. Mit all diesem ist der einfache Vorgang verbunden, den ich das Erstaunen nenne, jene Innigkeit im Aufnehmen der Welt und die große Lust, nach ihr zu greifen wie ein Kind, das eine gläserne Kugel sieht.“
Simon Strauß: Sieben Nächte. Blumenbar Verlag, Berlin 2017. 144 Seiten, 16 €.