Sieben Oscars für die Blockbuster-Persiflage „Everything Everywhere All at Once“
In dem ironischen Dank an das – nach dem letztjährigen physischen Übergriff des Schauspielers Will Smith – eigens eingerichtete Show-Krisenteam, den Moderator Jimmy Kimmel am Ende der 95. Oscar-Gala, gegen 4:30 Uhr mitteleuropäischer Zeit treuherzig lächelnd in die Kamera sprach, schwang etwas fast Bedauerndes mit: so viele nette Menschen, so viele gute, mindestens sympathische Reden – und so wenig Kontroverse!
Tatsächlich war es leicht, sich mit den Ergebnissen des Abends sanft anzufreunden, vor allem, was den unumschränkten Sieger des Abends anging: Die zwischen angedeutetem sozialen Realismus und turbulenter Blockbuster-Parodie angesiedelte Science-Fiction-Comedy „Everything Everywhere All at Once“ (Regie: Daniel Kwan & Daniel Scheinert) verwandelte gleich sieben ihrer elf Oscar-Nominierungen in reale Trophäen; sie ging nicht nur als bester Film ins Ziel, sondern wurde auch für die beste Regie, den besten Schnitt und das beste Originaldrehbuch gewürdigt und zudem mit gleich drei Schauspiel-Oscars (für Hauptdarstellerin Michelle Yeoh sowie die supporting players Jamie Lee Curtis und Ke Huy Quan) bedacht.
Kwan und Scheinert, beide 35, die man in der Branche nur „The Daniels“ nennt, traten immer wieder auf die Bühne, um sich ihre Oscars abzuholen, und sie wirkten dabei charmant ungeschliffen und genuin euphorisch, wie ein unüblich menschenfreundliches Comedy-Duo. Ihr Schnittmeister, Paul Rogers, brachte seine innige Verbundenheit mit den Daniels auf den Punkt, indem er sie „kind, strange and sexy people“ nannte. Die Österreicherin Monika Willi, deren Montagearbeit in dem Dirigentinnendrama „Tár“ bedeutend kunstvoller geraten ist als Rogers’ desorientierender Musikvideoschnitt, blieb als Industrie-Außenseiterin unberücksichtigt. Aber so ist die Academy mit ihren fast 10.000 Stimmberechtigten eben: Sie zeichnet nicht immer die Besten aus (viele visionäre Werke wie Jordan Peeles „Nope“ wurden heuer nicht einmal ignoriert), das gute Populäre hat dort einen wesentlich besseren Stand als die Formvollendung.
Vielleicht wurde auch deshalb in diesem Jahr (noch) mehr als üblicherweise bei den Oscars geheult: Brendan Fraser, der für seine Fat-Suit-Performance als trauriger Koloss in „The Whale“ als bester Hauptdarsteller auf die Bühne geholt wurde, rang sichtlich um Fassung. Ähnlich ging es Ke Huy Quan, der weinend davon erzählte, wie er es als einstiges vietnamesisches Flüchtlingskind zuwege brachte, den sprichwörtlichen Amerikanischen Traum zu realisieren. Später musste John Travolta schon gegen die Tränen kämpfen, als er nur die alljährliche Erinnerung an die verstorbenen Filmmenschen des letzten Jahres ansagte.
Weiblich und divers war die Oscar-Show 2023 jedenfalls. Hongkong-Filmstar Michelle Yeoh, die tatsächlich die erste in der Kategorie „Beste Hauptdarstellerin“ jemals für einen Oscar nominierte Asiatin ist, sprach zu Recht davon, dass gerade Geschichte geschrieben werde; und die 60-Jährige wandte sich an alle „Ladies“, die niemals hinnehmen sollten, wenn jemand behaupte, eine Frau habe „ihre besten Jahre hinter sich“. Die wahren Superhelden seien sowieso die Mütter, ohne die wir bekanntlich alle nicht am Leben wären. Das beste adaptierte Drehbuch erkannte man in Sarah Polleys „Women Talking“, die Regisseurin bedankte sich bei der Academy dafür, dass die die beiden Wörter, die im Titel ihres Films stehen, ohne Weiteres angenommen hätte: Die Begriffe „Frauen“ und „sprechen“ zu akzeptieren, noch dazu so nah beieinander, das sei doch ein seltener Akt der Großzügigkeit, lächelte Polley. Sowohl unter den Preisgekrönten als auch unter den Präsentierenden fanden sich wohltuend viele nicht-weiße Menschen, und dies wirkte an keiner Stelle forciert oder pflichtschuldig, sondern einfach so, wie das in multiethnischen, großstädtischen Gesellschaften sein sollte: ganz normal.
Und ein politisches Feigenblatt als aktuelles Statement gegen Putins Angriffskrieg blieb ebenfalls im Fangzaun dieses Abends hängen: Die Produktion „Navalny“, die den Kampf des russischen Dissidenten und politischen Gefangenen Alexei Anatoljewitsch Nawalny beschreibt, wurde zum besten Dokumentarfilm gekrönt.
Immerhin vier Oscars sprach man der deutschen Netflix-Produktion „All Quiet on the Western Front“ zu, die man zum besten fremdsprachigen Film erklärte, außerdem für Ausstattung, Musik und Kamera prämierte. Regisseur Edward Berger dankte dem jungen Wiener Schauspieler Felix Kammerer, der in der Remarque-Adaption die Hauptrolle spielt, für dessen unglaubliche Souveränität und Leichtigkeit.
Tom Cruise, nominiert als bester Schauspieler, blieb der Gala übrigens ebenso fern wie „Avatar“-Regisseur James Cameron, der sich gerüchteweise darüber geärgert haben soll, als Schöpfer des mit weitem Abstand lukrativsten Films des Jahres keine Regie-Nominierung erhalten zu haben. Auch das gehört zur Academy-Awards-Show: Das Strohfeuer der Eitelkeiten leuchtet bisweilen heller (allerdings naturgemäß kürzer) als die eigentlichen Leistungen der nominierten Damen und Herren.