Severin Fiala und Veronika Franz.
Skypen mit Spider-Man: "Ich seh ich seh"-Macher in Hollywood gefragt

"Ich seh ich seh"-Macher in Hollywood gefragt

Hollywoods Elite reißt sich um ein Regie-Duo aus Wien. Die unglaubliche Erfolgsgeschichte des Austro-Horrorthrillers "Ich seh Ich seh“ verblüfft die Branche - und hat auch ihre absurden Seiten.

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Als Ende August 2014 ein kleiner Psychothriller über plastische Chirurgie, familiäre Machtverhältnisse, verbrannte Haut, Küchenschaben und Identitätsspiegelungen beim Filmfest in Venedig uraufgeführt wurde, konnte niemand ahnen, welche Karriere auf diese Arbeit noch zukommen würde. "Ich seh Ich seh“ hat sich in den vergangenen 16 Monaten zu einer Art Welterfolg entwickelt - die Produktion lief auf 80 Festivals und gewann mehr als 20 Preise. In den Vereinigten Staaten erreichte sie, obwohl sie als untertitelter europäischer Arthouse-Schocker lief, 135.000 Menschen in 120 Kinos. Einspielergebnis allein in Nordamerika: 1,2 Millionen Dollar. Das ist, nur zum Vergleich, ziemlich genau jene Summe, die auch Michael Hanekes "Funny Games“ an US-Kinokassen lukrierte - allerdings nicht das österreichische Original, sondern sein (mit Stars wie Naomi Watts und Tim Roth besetztes) amerikanisches Studio-Remake.

Der Triumph von "Ich seh Ich seh“ ist umso erstaunlicher, als die kreativen Kräfte dahinter Regiedebütanten sind. Veronika Franz und Severin Fiala hatten davor erst einen Dokumentarfilm miteinander gedreht: ein Porträt des Schauspielers Peter Kern. Ganz neu im Geschäft sind sie aber auch nicht. Die ehemalige Journalistin Veronika Franz arbeitet seit 20 Jahren als Autorin und künstlerische Partnerin an der Seite Ulrich Seidls; dessen Neffe Severin Fiala hat an der Wiener Filmakademie studiert und (zusammen mit Ulrike Putzer) einen erstaunlichen Kurzfilm namens "Elefantenhaut“ (2009) vorgelegt.

Favorit beim Österreichischen Filmpreis

Die Erfolgsgeschichte von "Ich seh Ich seh“ blieb keineswegs auf einschlägige Festivals beschränkt. Nach der Auswertung unter anderem in den Niederlanden, der Türkei, in Frankreich und Deutschland und nach dem Kinostart in Nordamerika und Kanada im vergangenen Herbst wird der Film diese Woche in Japan veröffentlicht; Brasilien, Großbritannien und Chile folgen demnächst. Außerdem wurde er nach Mexiko, Argentinien, Island, Korea, Australien und China verkauft - in insgesamt 24 Länder, "wenn man Singapore Airlines mitzählt“, lacht die Regisseurin. Nun geht "Ich seh Ich seh“ mit sechs Nominierungen auch als Favorit beim Österreichischen Filmpreis ins Rennen, der nächste Woche in Grafenegg vergeben wird.

Eine genuin furchterregende Susanne Wuest steht im Zentrum von "Ich seh Ich seh“. Sie tritt gegen ein Zwillingspaar (souverän: Lukas & Elias Schwarz) an, das in ihr nicht mehr die Mutter erkennt, die sie zu sein beteuert. Sogar der US-Kinostart stand im Zeichen des Zwillings-Syndroms: Ausgerechnet am 11. September, exakt 14 Jahre nach den Anschlägen auf die Twin Towers, kam der Film - unter dem Titel "Goodnight Mommy“ - in Nordamerikas Kinos. An den Gewinnen sind Franz und Fiala immerhin per Umwegrentabilität beteiligt: Erst durch die Popularität in den USA verkaufte sich der Film weiter in den asiatischen Raum.

Das Interesse Hollywoods an Franz und Fiala hatte augenblicklich eingesetzt. Zwei Gesandte der legendären Weinstein Brothers sahen noch in Venedig die Premiere des Films - und kauften ihn für den Vertrieb in Amerika an. Wenige Tage nach der Premiere reiste das Regie-Duo weiter nach Toronto, wo ihr Film bereits "talk of the town“ war, wie Veronika Franz berichtet: "Wir standen in einer Bar und tranken Bloody Marys, während direkt neben uns Menschen aufgeregt über unseren Film redeten. Zwei Tage später waren dann bereits die Agenten hinter uns her.“

Der Großauftritt renommierter Agenturen verwirrte Franz und Fiala zunächst. "Wir wurden von Firmen kontaktiert, von denen wir noch nie etwas gehört hatten: ICM, UTA, WME und wie sie alle hießen - große und kleine Unternehmen, diskrete und aufdringliche Menschen.“ Also sagten sie kategorisch allen Interessenten ab, um sich genauer überlegen zu können, ob sie überhaupt und, wenn ja: von wem sie vertreten werden wollten. "Wir hatten ja erst einmal gar nicht vor, einen Agenten zu verpflichten, da wir ohnehin weiter Filme im deutschsprachigen Raum drehen wollten.“

Wir hatten im Sommer die Illusion, an einem neuen Drehbuch zu arbeiten. Stattdessen lasen wir drei Monate lang nichts als unverlangt eingesandte Scripts und reagierten rund um die Uhr auf E-Mails. Ich war mein eigener Personal Assistant! (Severin Fiala)

Doch die meisten Agenturen blieben hartnäckig: Ein ganzes Jahr lang bombardierten sie Franz und Fiala mit Facebook-Anfragen und E-Mails. Irgendwann im Spätsommer 2015 - nachdem der US-Trailer zum Film online gegangen (und seither über acht Millionen Mal angeklickt worden) war - resignierten die Filmemacher, auch weil sie jemanden brauchten, der die immer häufiger sich einstellenden Anfragen von Managern, Produzenten und Schauspielern aus aller Welt beantwortete. Fiala erinnert sich: "Wir hatten im Sommer die Illusion, an einem neuen Drehbuch zu arbeiten. Stattdessen lasen wir drei Monate lang nichts als unverlangt eingesandte Scripts und reagierten rund um die Uhr auf E-Mails. Ich war mein eigener Personal Assistant!“

Inzwischen haben Franz und Fiala zwei Agenten, die bei der in Beverly Hills ansässigen Traditionskünstleragentur William Morris Agency arbeiten, und einen Anwalt für künftige Projekte im englischsprachigen Raum - alles Bindungen ohne Vertrag, nur auf Handschlagbasis.

Aber nicht nur Hollywoods Agenturen schalteten auf Offensive, auch eine Reihe prominenter Produzenten meldete sich in den vergangenen Monaten bei den Österreichern. Mit Kooperationsangeboten vorstellig wurden nicht nur Alexandra Milchan ("The Wolf of Wall Street“) sowie "Fifty Shades of Grey“- und "The Social Network“-Producer Michael De Luca, auch Quentin Tarantinos Produzent Lawrence Bender bat um Audienz. In einem langen Skype-Gespräch mit Franz und Fiala diskutierte er unter anderem die Bedeutung des Kampfes für den analogen 35mm-Film ("Ich seh Ich seh“ wurde auf fotografischem Material gedreht) und die Schwierigkeit des zweiten Spielfilms. Bender schwelgte zudem in Erinnerungen an die Dreharbeiten an "Reservoir Dogs“ (1992); seine Hauptaufgabe habe damals darin bestanden, den äußerst unkonventionell arbeitenden Tarantino vor der täglich drohenden fristlosen Entlassung zu bewahren.

Kaum mehr als 10.000 Menschen sahen "Ich seh Ich seh“ in Österreich - wofür das fehlende Vertrauen hiesiger Zuschauer in lokale Genrefilme verantwortlich sein mag. Das virtuos beherrschte Thriller- und Horror-Handwerk, das in dieser Inszenierung von der Ausstattung bis zum Schnitt wirkt, ist auch ein Verdienst des - kürzlich mit dem Europäischen Filmpreis geehrten - Kameramanns Martin Gschlacht. In Österreich werde einem ein solcher Film jedoch erst einmal gar nicht zugetraut, stellt Veronika Franz kühl fest: "Mir hat der Wiener Produzent Helmut Grasser, noch ehe die Dreharbeiten begonnen hatten - und ehe er überhaupt das Drehbuch hätte lesen können -, dezidiert gesagt, dass wir ein Projekt wie dieses schlicht nicht stemmen könnten. Ich frage mich wirklich, woher dieser Defätismus kommt. Dabei haben wir unser Handwerk nachweislich gelernt. Aber hierzulande darf offenbar nicht sein, was nicht sein soll.“

In der hiesigen Filmbranche, die von Neid und Subventionsverteilungskampf zerfressen ist, scheint nur Österreich zu zählen. (Veronika Franz)

In Wiens durchaus intriganter Produzentenszene wird "Ich seh Ich seh“ bis heute der Erfolg abgesprochen. Weil das heimische Einspielergebnis hinter den Erwartungen zurückblieb, nahm man die steile internationale Karriere dieses Films gar nicht erst zur Kenntnis. Der Provinzialismus regiert - auch "weil in der hiesigen Filmbranche, die von Neid und Subventionsverteilungskampf zerfressen ist, nur Österreich zu zählen scheint“, so Franz: "Als existierte der Rest der Welt nicht.“ Und Severin Fiala ergänzt: "Die lokalen Produzenten haben eben kein Interesse daran, dass demnächst auch Filmemacher gefördert werden, die vor allem im Ausland gut ankommen."

Die ironische Distanz, die sie zu Hollywood halten, ist dennoch gut begründet. Fast jedes ihrer Gespräche mit US-Produzenten, die "sehr amikal und trotzdem streng geschäftlich ablaufen“ (Franz), folge einem genau festgeschriebenen Ablauf: "Erst kommt die Phase der Komplimente, in der minutenlang von unserem Film geschwärmt wird. Dann stellt sich unser Gesprächspartner vor, erzählt uns, welche wichtigen Produktionen er betreut hat oder derzeit entwickelt. Danach kommt unweigerlich die Frage, über welche Projekte wir derzeit nachdenken, unmittelbar gefolgt von der Zusatzfrage, ob wir auch andere Stoffe verfilmen und in Amerika drehen würden - was wir stets mit der Phrase beantworten, dass wir dies nur täten, wenn wir auch die Kontrolle über Gestaltung und Endfertigung behalten könnten. So neigt sich das Gespräch dem Ende zu: Man konfrontiert uns mit einem konkreten Projekt, über das man uns nachzudenken bittet, kündigt an, das Drehbuch dazu zu schicken, und verabschiedet sich.“

Dass Hollywood auch nur ein Dorf ist, scheint den beiden inzwischen klar zu sein. "Das Lustige ist: In Hollywood kennt jeder jeden, das ist genau wie in Wien“, sagt Veronika Franz: "Für uns war Los Angeles anfangs eine fremde, unüberblickbare Welt, in der wir am Ende nicht mehr wussten, was wir wem noch erzählen durften. Oft hatten wir das Gefühl, dass streng vertrauliche Informationen, die wir einzelnen Gesprächspartnern mitteilten, schon drei Stunden später allen bekannt waren, denen wir da begegneten.“

Was sie gerade erlebten, sei eine ziemlich surreale Erfahrung: "Hollywood erscheint wie eine virtuelle Welt, es ist wie an der Börse. Da wird mit Büchern, Firmen und Schauspielernamen geschachert, und Marktwerte werden behauptet, die niemand nachvollziehen kann. Man wirft etwa Namen wie Kirsten Dunst oder auch Jennifer Lawrence ein, mit denen man gerne drehen würde, und alle bestätigen, klar, das sei vermutlich kein Problem. Und man denkt nur: Es kann also sein, dass ich übermorgen mit Kirsten Dunst drehe, aber es ist genauso gut möglich, dass ich sie niemals kennen lernen werde.“ Und man wisse sowieso nie, wie konkret ein Angebot tatsächlich sei, sagt Fiala, auch wenn es noch so dringlich und real erscheine. "Wir hören dauernd von Regisseuren, die man feuern werde, damit wir endlich das Ruder übernehmen könnten - und wir wissen genau: Wir wären dann wohl die Nächsten, die man bei minimaler Unzufriedenheit entlassen würde.“

Bizarre Begegnungen

Ein Treffen mit sieben halbstarken Jungproduzenten, die für eine Tochter des Sony-Konzerns arbeiten, blieb nachhaltig in Erinnerung. "Die schauten nur verächtlich, als wir von unseren bescheidenen Fünf- bis 15-Millionen-Dollar-Projekten erzählten, die wir ja bewusst wählen wollen, um die kreative Kontrolle zu behalten“, erzählt Franz. "Sie meinten nur, wir sollten wiederkommen, wenn wir mal einen Film planten, der sich im Bereich zwischen 150 und 200 Millionen bewege. Die hatten keine Ahnung, wovon sie redeten, kamen sich aber gut dabei vor, derart hochzustapeln. Es war bizarr.“

Unlängst meldete sich aber ein freundlicher junger Mann bei ihnen. Der Schauspieler Tobey Maguire ("Spider-Man“) rief an, er sei begeistert von ihrem Film, ob sie ihn in Zürich nicht schnell treffen wollten für eine mögliche Zusammenarbeit, er würde gerne produzieren. Veronika Franz gab sich unbeeindruckt: "Wir haben abgesagt, weil wir uns auf die Schnelle kein Flugticket leisten wollten - und mit dem Auto kam uns die Strecke zu weit vor.“ Das Argument ist legitim: Tatsächlich haben Franz und Fiala, bei allem hysterischen Interesse, das ihnen derzeit entgegenschlägt, seit anderthalb Jahren kaum etwas verdient, weil sie nur noch mit der Nachbetreuung ihres Films befasst sind. "Also skypten wir stattdessen mit Maguire, und als wir dann in L. A. waren, um unsere Kampagnen für die Golden Globes und die Oscar-Show zu lancieren, trafen wir ihn auch persönlich an irgendeiner Hotelbar. Aber da waren wir schon derart ausgelaugt von den tausend Besprechungen, dass wir mit unseren Gin-Tonics nur noch hirntot herumstanden und Smalltalk machten, während Tobey Maguire und sein Produktionspartner ernsthaft warmes Wasser mit einem Schuss Zitrone bestellten.“

Als Mitte Dezember die Nachricht eintraf, dass "Ich seh Ich seh“ die Oscar-Shortlist am Ende doch nicht erreicht hatte, reagierten Fiala und Franz mit glaubhafter Erleichterung. Nun könnten sie sich, nach Wochen des Netzwerkens und campaigning, endlich wieder auf ihre Arbeit konzentrieren. An Projekten mangelt es ihnen einstweilen nicht. Neben einem Genrefilm zur Flüchtlingskrise, der auf einem Containerschiff spielen würde (Arbeitstitel: "Fortress“) und als US-europäische Koproduktion angedacht ist, schweben ihnen derzeit vor allem zwei selbst entworfene historische Spielfilme vor, die sich ausgesucht finsteren Themen widmen: der Biografie von Wiens letztem Henker und den blutigen Taten suizidaler Frauen. Zudem wurden ihnen Regie-Jobs für die britische Science-Fiction-Reihe "Black Mirror“ sowie eine gerade in Produktion befindliche Serie nach Jennifer Egans Roman "A Visit from the Goon Squad“ angeboten.

Wofür sie sich entscheiden werden, steht noch nicht fest. Zu Hollywoods Fast Movers wollen sie nicht gehören, sie lassen sich lieber Zeit. Sie sehen vorläufig keinen Grund zu hastigen Entscheidungen. Über das - von vielen Seiten geforderte - englischsprachige Remake ihres eigenen Films denken Veronika Franz und Severin Fiala übrigens nicht nach. Etwas Langweiligeres könnten sie sich nicht vorstellen. Das müsse jemand anderer machen. Sie suchen nach neuen Herausforderungen. Das Dauerkommunizieren war anstrengend genug.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.