Wolfsnatur des Menschen
Joanna Bator ist im deutschsprachigen Raum keine Unbekannte. Sie wurde 1968 in der polnischen Bergbaustadt Wałbrzych geboren, ehemals Waldenburg, Niederschlesien, das wie in Bators vorangegangenen Büchern auch in „Bitternis“ einen geografischen Ankerpunkt bildet. Sie studierte Kulturwissenschaften und Philosophie, arbeitete und lebte in Warschau, New York, London und Tokio; auf Deutsch sind ihre Romane „Sandberg“ (2011), „Wolkenfern“ (2013), „Dunkel, fast Nacht“ (2021) und nun eben „Bitternis“ erschienen. „Sandberg“ und „Wolkenfern“ wurden von der deutschen Autorin Esther Kinsky übertragen; für „Bitternis“ fand Übersetzerin Lisa Palmes ein so präzises wie poetisches Deutsch.
In „Bitternis“ ist viel von Fleischwölfen, Wölfen im Wald und der Wolfsnatur des Menschen die Rede. So viel zur Ausgangslage. Der Roman erzählt von einer Welt der Mütter und Töchter, in der die Männer, ausnahmslos rohe Klötze mit grob kantigen Gebärden, in verschiedenen Stadien des Verfalls und des Verrücktseins zu erleben sind. Berta, Barbara, Violetta und Kalina heißen die vier fiktiven Frauenfiguren, deren Leben und Sterben die polnische Autorin auf über 800 Seiten auffächert.
Die Schriftstellerin Kalina ist die Berichterstatterin in „Bitternis“, indem sie ihre zerstreute Familiengeschichte neu mit Leben füllt, mithilfe von Tagebüchern, Briefen, Zeitungsausschnitten und Gesprächen ein Mosaik vieler Leerstellen entwirft. „Bitternis“ ist eine brillante Etüde darüber, was Erinnern heißt. „Ich will wissen, wo diese Dinge im Netz der Ereignisse und Emotionen liegen. Wie sie befestigt sind“, schreibt Kalina. „Ich beginne mit dem, woran ich mich mit jener Klarheit aller Sinne erinnere, die von der historischen Wahrheit und der Hierarchie der Fakten unbeeindruckt bleibt.“
Kalina erzählt von ihrer Urgroßmutter Berta, an der das Schweinezerlegen geprobt wurde, mit der diese Familiengeschichte beginnt. „Küche, Kirche und ihre Blagen, um nichts anderes werde Berta sich für den Rest ihres beschissenen Lebens kümmern“, fordert der Fleischhauer-Tyrann, „und falls sie schon eins im Bauch hätte, gäb’s nochmal extra was aufs Maul.“ Da ist Kalinas Großmutter Barbara, eine Schweigende, die fürchterliche Demütigungen erdulden muss. „Guck nur, Mamusia“, wie einer ihrer Peiniger, der Barbara zu „30 Jahren Nichtliebe verurteilt“, sie zynisch auf Polnisch „Mami“ nennt: „Mamusia frisst wie ein Köter vom Boden, wenn ich es ihr befehle! Wuff wuff! Bei Fuß!“ Das Dasein als öde, trostlose Wüste: „Klein,
gebeugt und verschlossen – so, als drohe etwas nach draußen zu entweichen und sie zu verschlingen, wenn sie die Tür zu ihrer Seele nur ein klein wenig öffnete –, mied Barbara Situationen, in denen sie eindeutig bekannt geben musste, dass sie existierte.“
Schließlich Kalinas Mutter Violetta, die ihren Billigträumen vom großen Glück hinterherjagt, eine Virtuosin des vergeudeten Lebens und der verqueren Lebensweisheiten: „Wer auf Erden liebt zu wählen, wird sich in der Hölle quälen. Rabimmel rabimmel, blau ist der Himmel, und himmelblau ist die Scheiße im Paradeise.“ Vor dem ewigen „szajse, szajse“ von Großmutter Barbara ist so gut wie nichts sicher. Die Mitglieder dieser Familie würden sich nicht recht eignen für ein gemeinsames Foto am festlich gedeckten Feiertagstisch. Von Friede, Freude und Festlichkeit hält sich Bator tunlichst fern.
„Bitternis“ erzählt davon, wie diese vier Frauen an so ziemlich jeder Lebenskreuzung falsch abbiegen und in ihrem Alltag einem Mahlstrom herzzerreißender Ereignisse ausgeliefert sind. Männer flanieren durch dieses Buch als Gespensterfiguren, Jammerlappen und „Häckerle“-Junkies. „Die Geschichte meiner Familie ist durchsetzt mit männerförmigen Löchern“, notiert Kalina.
Gefühlsachterbahn und Gewaltorgie
Der Roman, der ungefähr 100 Jahre umspannt, blickt zurück auf eine Epoche der politischen und ideologischen Katastrophen, ist ein mit zahllosen Beobachtungen des Allzumenschlichen gespicktes Epos. Gefühlsachterbahn und Gewaltorgie, Gedächtniskunst und Guide durch jene Gefilde, die gemeinhin das Dasein des Menschen ausmachen: fressen, saufen, scheißen, ficken, sterben. Man darf das so anschaulich formulieren, weil Bator nicht davor zurückscheut, die Dinge beim Namen zu nennen. „Bitternis“, dieses dicht gestrickte Prosa-Patchwork von vier Frauenleben, ist nicht zuletzt ein schwarzer Hymnus auf das Einverleiben und Ausscheiden, auf Liebe und Tod.
„Bitternis“ ist ein berückend waghalsiges Unterfangen und sticht in vielerlei Hinsicht aus der deutschsprachigen Romanlandschaft hervor. Hier erzählt eine Autorin, die frohgemut die Koordinaten durcheinanderpurzeln lässt für das, was ein Roman gemeinhin darf – ein Buch, das sich jeder Linearität und Chronologie verweigert, Ab- und Umwege beschreitet, fröhlich rote Fäden perforiert und nichts mit jenem Edelschmelz historischen Erzählens gemein hat, bei dem der Blick in die Vergangenheit zum Folklore-Happening, zur flauschigen Familienshow verkommt. Verwandtschaft, das ist eine der Lehren aus „Bitternis“, ist ein Terrain blühender Traumata. „Unser Verhältnis war ein kalter Krieg, beide rüsteten wir auf, um die erzwungene Nähe zu ertragen“, umreißt die Ich-Erzählerin Kalina die Beziehung zu ihrer Mutter: „Und ich schloss daraus, dass eine Tochter nur dann überleben könne, wenn sie ihrer Mutter so wenig ähnlich war wie möglich.“ Es geht ums nackte Überleben.
„Schweinezerlegen“, so nennt Vater Hans die Erziehungsmaßnahme für seine Tochter Berta, Kalinas Urgroßmutter: „Nach dem Schweinezerlegen rumorte stets ein gewaltiger Appetit in Hans’ Eingeweiden, und er scheuchte den eben erst in seine Einzelteile zerlegten töchterlichen Körper in die Küche, wo sie ihm Eier oder Kartoffeln mit Wurst briet und Häckerle auf dicke Brotscheiben strich.“
Barbara, die Großmutter von Kalina, wird wie so oft verprügelt: „Der Mann griff nach ihren Haaren und knallte ihren Kopf gegen den Herd, und als sie das Bewusstsein verlor, schleuderte er ihren Körper zu Boden und trat sie ein paar Mal in den Bauch.“
Auf den letzten Seiten des Romans bekennt Kalina: „Nun habe ich die Geschichte unserer Familie niedergeschrieben. Ich halte sie nicht für vollständig und auserzählt – eine solche Geschichte ist nie zu Ende.“
Am 23. Jänner um 19 Uhr ist Joanna Bator im Rahmen der von der Wiener Autorin Angelika Reitzer kuratierten Reihe „Welt/Literatur“ in der Alten Schmiede zu Gast; Schönlaterngasse 9, 1010 Wien