Opernstar Anna Netrebko

Sollen Kunstschaffende ihre Meinung zum Krieg öffentlich machen?

Europas Kulturszene gibt sich unter dem Druck des Krieges in der Ukraine kämpferisch – und greift zu teilweise dubiosen Mitteln.

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Nach einer prolongierten Schrecksekunde begann es in den Tagen nach der russischen Invasion auch in der Kunstszene zu gären, durchaus heftiger, als man dachte. Denn eine brisante Frage drängte sich auf: Wie sollte man mit all den aus Russland stammenden, in Europa tätigen Kreativen umgehen, die nicht sofort auf Mahnrufe und Social-Media-Aktivismus umschalteten, die sich zurückhielten, schwiegen, nachdachten – oder sich in seltsam wolkiger Pazifismus-Rhetorik verloren? Ein dunkler Verdacht fiel auf sie, der Vorwurf, nicht ausreichend auf Distanz zum Aggressor gegangen zu sein, stand plötzlich im Raum. Und die Cancel-Culture hob, mangels anderer zur Verfügung stehender Instrumente, ihr zweifelhaftes Haupt. 

Dabei gibt es in Russland, dieser alten, großen Kulturnation, gegenwärtig viele, die sich prononciert gegen Putin wenden. In Petitionen etwa, von Tausenden Kulturschaffenden unterzeichnet, wird ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen gefordert; insbesondere die Theaterszene leistet mutigen Widerstand. Wladimir Urin, Chef des weltberühmten Bolschoi-Theaters in Moskau, stellte seine Haltung klar: „Wir wollen keinen neuen Krieg, wir wollen nicht, dass Menschen sterben.“ Und Elena Kovalskaya, künstlerische Leiterin des Moskauer Meyerhold-Theaterzentrums, schrieb auf Facebook, man könne nicht „für einen Mörder arbeiten und von ihm bezahlt werden“ – und trat aus Protest zurück. 

Auf der anderen Seite stehen Putins Staatskünstler: Der Filmregisseur Nikita Michalkow („Urga“) denunzierte die Opposition lautstark; es gehe der Kunstkollegenschaft nicht um die Ukraine, man „heule“ bloß aus Angst vor Sanktionen, weil man Haus und Yacht im Ausland nicht verlieren wolle. Und der Dirigent Valery Gergiev, der auf die Nachfrage, wie er zu Putins Krieg stehe, seit Tagen beredt schweigt, nimmt lieber in Kauf, nirgendwo im Westen mehr beschäftigt zu werden, als ein Wort gegen den Angriff auf die Ukraine zu verlieren.

Die Austro-Russin Anna Netrebko, auch sie als Putin-Sympathisantin bekannt, hat sich erfolglos an einem Mittelweg versucht: Sie sei „gegen diesen Krieg“, ließ sie wissen, fügte aber hinzu, es sei nicht richtig, Kunstschaffende zu zwingen, ihre politische Meinung in der Öffentlichkeit zu äußern „und ihr Heimatland anzuprangern“. Sie sei „kein politischer Mensch, kein politischer Experte“. Als Netrebko merkte, dass sie mit dieser Haltung ihre Karriere weiter bedrohte, postete sie auf Instagram Folgendes: „Ich fordere Russland auf, diesen Krieg jetzt zu beenden, um uns alle zu retten! Wir brauchen Frieden!“ Doch offenbar bekam sie Angst vor der eigenen Courage – und löschte den Eintrag gleich wieder. Die Bayerische Staatsoper cancelte Netrebko umgehend, weiteren Ausladungen kam sie zuvor, indem sie alle Auftritte für die kommenden Monate absagte.

Der russisch-deutsche Pianist Igor Levit reagierte indigniert: Musiker zu sein entbinde nicht von der Verantwortung als Bürger. Eine unpolitische Haltung mit dem eigenen Künstler-Dasein zu entschuldigen, beleidige die Kunst an sich. Comedian Jan Böhmermann schlug via Twitter in dieselbe Kerbe: „Vor einem halben Jahr hat Netrebko im Kreml ihren 50. Geburtstag gefeiert. Nichts ist unpolitisch, niemals, und schon gar nicht die Kunst.“ Also politisiert man sich vorsorglich. Wortgleich klingen die Aussendungen aus den Chefbüros der Festspiele in Salzburg und Bregenz: Man sehe „keine Grundlage für eine künstlerische oder wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Institutionen oder Einzelpersonen, die sich mit diesem Krieg, dessen Betreibern und deren Zielen identifizieren“.

Bei den Filmfestspielen in Cannes im kommenden Mai will man alle „offiziellen russischen Delegationen sowie jeden Menschen, der mit der russischen Regierung verbunden sei“ verbannen, nicht jedoch regimekritische Positionen aus Russland. 

Aber sind Auftrittsverbote, Kündigungen und Bekenntniszwang nicht auch repressive Maßnahmen? Und warum gelten die Haltungen der Putin-Freunde erst neuerdings als problematisch? Kritik an der Annektierung der Krim kam Gergiev nie über die Lippen, Spitzenjobs bekam er trotzdem weiterhin, bis zuletzt hofiert nicht nur von den Wiener Philharmonikern. Nun schlägt das Pendel in die Gegenrichtung aus, die Sanktionen gegen Sport und Kunst werden ohne Maß und Ziel gesetzt: Wenn die Europäische Filmakademie jetzt, aufgefordert unter anderem von dem ukrainischen Regisseur Sergei Loznitsa, den Boykott sämtlicher russischer Werke verhängt, so ist dies ein fast schon hilfloser Akt der Gleichmachung von linientreuer und dissidenter Kunst.

Tatsächlich sind die moralischen Fragen in dieser Causa überaus komplex. Günstling eines mörderischen Regimes zu sein, ist keine Privatsache. Man kann nicht den Humanismus der hohen Kunst vertreten, wenn man als Privatmensch Inhumanes duldet. Und auch zu proklamieren, man sei grundsätzlich gegen den Krieg, mag mutiger klingen, als es eigentlich ist in einem Land, das seine gegängelten Medien dazu zwingt, Begriffe wie „Krieg“, „Angriff“ und „Invasion“ zu vermeiden, stattdessen neutrale Wörter wie „Spezialoperation“ zu verwenden. 

Zudem muss man unterscheiden zwischen jenen, die geschützt längst im Westen leben, und den unerschrockenen Menschen, die in Russland selbst Kritik äußern. Die Schriftstellerin Alissa Ganijewa, 37, lebt in Moskau; sie hat wortgewaltig zum Rundumschlag ausgeholt. Auf „Zeit Online“ schreibt sie von der „unendlichen Scham“, Teil der „schweigenden, geduldigen, leichtgläubigen, fügsamen“ russischen Gesellschaft zu sein. Und weiter: „Mit der Kriegserklärung gegen die Ukraine hat Putin sich selbst das Urteil gesprochen. Seine ersehnte Rolle in den Geschichtsbüchern als Sieger und Retter von Brudervölkern wird er wohl kaum spielen.“ Viele Vertreter der Elite seien plötzlich aufgewacht und haben gemerkt, dass Putin „das Böse“ sei. „Aber kein erhabenes, infernalisches Böses, kein Zar auf einem schwarzen Thron – sondern ein kleines, rachsüchtiges, feiges Böses, eine KGB-Seele, eine Motte im grauen Anzug, mit Gift in der Jackentasche.“

Welchen Einfluss hat der Krieg in Europa auf die Kulturszene?

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Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.