László Nemes mit Oscar.

"Son of Saul": Narzissmus und Größenwahn

"Son of Saul": Narzissmus und Größenwahn

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Ein bleicher Mann bewegt sich durch die Zonen der Todesfabrik. Er verrichtet routiniert seine Arbeit, administriert das Grauen. Er weist den Häftlingen den Weg, sorgt für ihre schnelle Entkleidung und lenkt sie in einen angeblichen Hygieneraum. Während sie Augenblicke später zu schreien und an die verriegelten Türen zu schlagen beginnen, sammelt der Mann in eiligen Gesten ihre Kleidung und Wertsachen zusammen, die sie nicht mehr brauchen werden. Danach zerrt er nackte Frauenleichen durch die Gänge Richtung Krematorium - und reinigt die Gaskammer für den nächsten Zyklus.

Dies ist die Welt, in die der Film "Son of Saul“ vordringt: eine plastische Re-Inszenierung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau anno 1944, gefiltert durch den Blick eines fiktiven Häftlings. Saul Ausländer, als Mitglied des jüdischen "Sonderkommandos“ in Auschwitz ein lebender Toter, fasst eine wahnwitzige Mission ins Auge: Inmitten des Chaos, inmitten all der Massaker versucht er, ein ermordetes Kind, von dem er behauptet, es sei sein eigener Sohn, vor Sezierung und Verbrennung zu bewahren und ihm ein jüdisches Begräbnis zu organisieren. Dazu braucht er einen Rabbi, den er unter den Neuankommenden zu suchen beginnt. Ein moralisches Motiv treibt den minimalistischen Plot dieses Films voran: eine Geste des Mitgefühls, um Erlösung zu finden, ein Akt des Glaubens, ein Funken Hoffnung gegen die äußerste Barbarei.

Um von Auschwitz berichten zu können, braucht man nicht Formvollendung, sondern Verantwortungsbewusstsein

Gleich nach der Weltpremiere vor zehn Monaten gewann "Son of Saul“ einen Hauptpreis in Cannes - und vor drei Wochen erwartungsgemäß auch noch den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Tatsächlich ist "Son of Saul“ so spektakulär wie provokant, denn die Inszenierung operiert de facto nicht analytisch, sondern rein sensorisch: als shock ride und Kino-Attraktion, als Höllentrip in Entertainment-Ausfertigung. Die Handkamera, die den engen, fast quadratischen Filmbildern ihre Mobilität verleiht, bleibt (kompetent geführt von Mátyás Erdély) ganz nah an Saul, begleitet ihn durch alle Bereiche des Lagers, wendet sich niemals von ihm ab, blickt nicht einmal zur Seite - und drängt die Exekutionen, die Leichen und deren Verbrennung an die Bildränder, in den Unschärfebereich der Einstellungen.

Das Gros der internationalen Filmkritik feierte "Son of Saul“ schon in Cannes in leuchtenden Farben: Man fand das Werk "kraftvoll, kunstfertig und stimulierend“, "zugleich beängstigend und zu packend, um wegschauen zu können“. Und man lobte den "Mut“ des Regisseurs, als sei die Entscheidung, sich Auschwitz als Thema vorzunehmen, nur eine Frage der Courage. Chuzpe hatte László Nemes, 39, geboren in Budapest, ehemaliger Assistent des Ultra-Existenzialisten Béla Tarr, wohl gebraucht; sein Regiedebüt wollte er in großem Stil begehen. Also beschloss er, dem gefürchteten Format des Holocaust-Dramas einen ganz neuen Dreh zu verleihen, der es plötzlich "aufregend“ und "lebendig“ aussehen lassen sollte: die Shoah als experimenteller Arthouse-Thriller, der von einem Wettlauf gegen die Zeit berichtet und aus dem hohen Risiko des Helden, entdeckt zu werden, sein Spannungskapital schlägt.

Nur: Ist Auschwitz-Birkenau, das entsetzlichste unter allen NS-Vernichtungslagern, der Ort für einen Thriller? Ist es nicht obszön, von Auschwitz mit einem Begriff wie suspense zu sprechen? Die Courage, die zweifellos nötig ist, um ein solches Projekt überhaupt zu starten, verwandelt sich, befeuert von dem speziellen narzisstischen Perfektionismus des Regisseurs, erst recht in bloße "Kunstfertigkeit“. Um von Auschwitz berichten zu können, braucht man nicht Formvollendung, sondern Verantwortungsbewusstsein.

László Nemes ist dennoch der aktuelle Superstar des Shoah-Business. Er habe nicht "auf der sicheren Seite bleiben“ wollen, sagt er in Interviews, nicht in den konservativen Bahnen der Holocaustfilm-Tradition und ihrer beruhigenden Überlebenserzählungen. Er habe gegen die Konventionen, etwa jene, die Steven Spielberg mit "Schindlers Liste“ 1993 vorgab, arbeiten wollen und sich beispielsweise an der antiken Tragödin Antigone orientiert, die bei Sophokles ihren Bruder gegen die politische Willkür zu bestatten versucht. "Son of Saul“ funktioniere "nicht auf einer intellektuellen Ebene“, sagt Nemes, richte sich vielmehr an die "Eingeweide des Zuschauers“. Denn der Holocaust sei inzwischen zu einer "bedeutungsleeren Abstraktion“ geworden - "wie die Titanic, ein bloßer Mythos“.

Wenn auch der Erzählkern des Films fiktiv ist, so beruft sich Nemes am Rande doch auch auf die reale Geschichte seines Schauplatzes - auf eine gescheiterte Revolte des "Sonderkommandos“ am 7. Oktober 1944 nämlich. Und er verhandelt ganz offen die Frage der Legitimität (und des Wirklichkeitsabdrucks) fotografischer Zeugnisse des Unvorstellbaren, etwa mit der Historizität des 35mm-Materials, auf dem dieser Film entstand. Nemes verweist zudem auf die fotografische résistance, auf jene gespenstischen vier Fotos, die Häftlinge im Herbst 1944 mit einer geschmuggelten Kamera anfertigen konnten.

Der Horror, der hier stattgefunden habe, sei nicht darstellbar, gibt auch Nemes zu

Der beeindruckende Darsteller des Saul ist übrigens ein Laie: Im maskenhaften Gesicht des ungarischen Dichters Géza Röhrig, der mit minimalistischem Schauspiel, aber viel Charisma agiert, zeichnen sich erstaunlich direkt Todesangst, Traumatisierung und die letzte Entschlossenheit eines Menschen ab, der weiß, dass er der Hölle des Konzentrationslagers nicht lebend entrinnen können wird. Ausländers unrealistische Bewegungsfreiheit im Lager ist die dramaturgische Vorbedingung: Nur so sind die Hierarchien und Manipulationen vorzuführen, die im "Sonderkommando“ und um es herum herrschten, all die kleinen Bestechungen und Diebstähle, die Teil der größeren Maschinerie des industriellen Massenmordes waren.

Man muss Nemes, so salbungsvoll er über seinen Film und dessen eher simple Moralphilosophie auch sprechen mag, leider misstrauen: Ein Regisseur, der davon ausgeht, dass es mit ein bisschen guter Filmtechnik und inszenatorischem Geschick möglich sein müsse, fass-und vorstellbar zu machen, "wie es war“ in Auschwitz 1944, leidet an Symptomen von Größenwahn - und möglicherweise an einem ähnlichen Tunnelblick wie sein Protagonist. Der Ästhetizismus in "Son of Saul“ ist ein bewusst gesetzter Bruch mit dem Tabu, die Überschreitung einer Grenze: Kann es so etwas wie "Authentizität“ geben in der Rekonstruktion der Todesmühle Auschwitz?

Der Horror, der hier stattgefunden habe, sei nicht darstellbar, gibt auch Nemes zu, der selbst Teile seiner Familie im Holocaust verloren hat - deshalb zeige er das Geschehen eben nur in Ausschnitten. Mit dem begrenzten Blick und der Engführung auf den Titelhelden schafft Nemes aber das Problem der Darstellbarkeit nicht ab. Abgesehen davon, dass er vieles sehr konkret zeigt: Auch die künstlich orchestrierten Gräueltaten im Off, eine Kakophonie des Brüllens, Schlagens, Stöhnens und Mordens, auch all die gebellten Befehle und der Motorenlärm der Maschinen sind letztlich bloß Illustrationen eines historischen Traumas.

Nemes bleibt der Realität, nach der er giert, doch seltsam fern

Wie muss es sich angefühlt haben, diesen Film zu drehen und zu vertonen? Wie bringt man Statisten dazu, ihre Ermordung in den Gaskammern von Auschwitz akustisch zu simulieren? Wie choreografiert man die Entsorgungsarbeit an übereinander gestapelten nackten Frauenleichen? Dies sind die zentralen Fragen dieses Films; für dessen eigentliches Zentrum, die Rolle des "Sonderkommandos“, der jüdischen KZ-Zwangsarbeiter, die nach der Befreiung - wenn sie überhaupt überlebt hatten - als Mittäter verurteilt, oft sogar hingerichtet wurden, interessiert sich Nemes nicht weiter.

"Son of Saul“ ist so etwas wie die Antithese zu Spielbergs Hollywood-Holocaust und Roberto Benignis KZ-Märchen "Das Leben ist schön“ (1997). Aber Nemes bleibt der Realität, nach der er giert, doch seltsam fern. Sein cleverer Subjektivismus kann das Gefühl vermitteln, "mittendrin“ zu sein in einem Inferno, das einmal wirklich existierte; aber wenn man als Betrachter den Terror von Auschwitz nun wie ein Tourist besuchen kann, dann ist dieser Terror eben nicht mehr unvorstellbar. Das ist die deprimierende Conclusio aller missglückten Spielfilme über die Shoah: Sie machen das Unvorstellbare fühl- und greifbar - und trivialisieren es damit. "Son of Saul“ gibt vor, uns fühlen, hören und sehen zu lassen, "was wirklich geschah“ im Vernichtungslager; allein gemessen an dieser Intention ist dieser Film ein Werk von atemberaubender Anmaßung.

Ein Roman über Auschwitz, so hat der Autor und Holocaust-Überlebende Elie Wiesel einst notiert, sei entweder kein Roman oder er handle nicht von Auschwitz. Diese Beobachtung trifft auch auf "Son of Saul“ zu - einen Thriller, der sich am Grauen seines Sujets seltsam berauscht. "Son of Saul“, ein Visitenkartenfilm für hohe Inszenierungsvirtuosität, handelt nicht von Auschwitz.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.