Sophie Reyer: „Der Kühlschrank muss ja gefüllt werden.“
Ihre Tage müssen 36 Stunden haben. Mit 19 hat Sophie Reyer ihr erstes Buch veröffentlicht. Soeben ist „1431“ erschienen, eine Romanbiografie der französischen Nationalheiligen Jeanne d’Arc. „1431“ ist Reyers 70. Buch. Nummer 71, „Musica Femina“, eine Hommage an 100 Komponistinnen, liegt parallel in den Buchhandlungen. Nr. 72, ein Wien-Krimi, ist für Herbst angekündigt.
Reyer, Jahrgang 1984, ist die Enkelin des 1999 verstorbenen Jedermann-Darstellers Walther Reyer und die Nichte von Model und Journalistin Cordula Reyer. Man landet schnell bei großen Zahlen, wenn man eine Ahnung davon bekommen will, wer Sophie Reyer sein könnte. „Ich liebe meine Arbeit“, sagt die Schriftstellerin, die ihren Sätzen gern ein kräftiges Lachen hinterherschickt: „Der Kühlschrank muss ja gefüllt werden.“ An „1431“ habe sie „wie irre“ gearbeitet, Bücherberge über die vor knapp 600 Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannte Freiheitskämpferin gelesen. Wie irre. Das sagt Reyer oft, wenn sie ausdrücken will, dass sie sich einem Thema hoffnungslos verschrieben hat.
Sie hat Biografien über Susanne Wenger, Grazer Künstlerin und Priesterin des Yoruba-Kultes in Nigeria, und über Mariedl geschrieben, eine 1879 geborene Tiroler Bergbauerntochter mit einer Körpergröße von über 2,17 Metern. Jules Vernes Klassiker „20.000 Meilen unter dem Meer“ hat Reyer für Erstleser neu erzählt und in einem Reiseführer über „111 Wiener Orte und ihre Legenden“ gesammelt. Sie hat Krimis und Kinderbücher, Romanpartituren mit Vampiren und erst jüngst auf den Spuren Michel Foucaults die Enzyklopädie „Biomachtmonsterweiber“ veröffentlicht. Dazu komponiert Reyer, sammelt Frauenbiografien, dreht Kurzfilme.
Als Autorin fällt sie gern mit der Tür ins Haus. Ihre Satzgefüge dürfen schrill und überspannt klingen, allzu gedrosselte Regungen haben Seltenheitswert: Hauptsache, die Prosa schwingt. Die Figur Flora stolpert in „Schildkrötentage“ (2017) durch die Welt, während sich Klein-Käthe in „Zwei Königskinder“ (2020) bei ihren Streifzügen durch die Untiefen der Dorfprovinz so fremd wie der Mond fühlt. Reyers Schreib-Drive ist oft mitreißend, zuweilen manieriert, mitunter überschießend. Ihre Bücher sind fortgesetzte Plädoyers für ein kühnes Erzählen, das Fehltritte und Fettnäpfchen nicht scheut. In „Mutter brennt“ (2019) wird inflationär „gestiert“ und „gegiggelt“, und die nicht mehr taufrische Metapher, wonach sich geknechtete Menschen bisweilen in Tiere verwandeln, steht in „1431“ im Dauereinsatz.
„1431“ illustriert, was den Kern von Reyers Büchern ausmacht: die permanente Bereitschaft, zu weit zu gehen, Grenzen neu auszuloten – thematische, formale, ästhetische. Insofern handelt es sich bei dem Roman um einen kleinen Prosaglücksfall: Ein Stoff findet seine ideale Autorin. Reyer ergeht sich regelrecht in den Visionen der Märtyrerin. In deren „feurigem Schädel“ leuchten „Lichtgespinste“ und verheddern sich „Denkfäden“. Die „Nacht atmet“, und die große Frage lautet: „Kann der Tod sterben?“ Selbst Gott und die Heiligen sind in Plauderlaune: „Weinen ist schlecht fürs Gesicht“, mahnt Erzengel Michael das Bauernmädchen: „Reiß dich zusammen!“
Für Buch Nummer 73, das von den Gebrüdern Grimm handeln wird, denkt Reyer übrigens gerade über Großmutters große Augen, Dornröschenschlaf und Siebenmeilenstiefel nach. Ihre Tage müssen 72 Stunden haben.