Späte Veröffentlichung: Das lange verschollene Kruder & Dorfmeister-Album "1995"
Soeben erreichen uns Nachrichten aus der Technikhorror-Ecke. Die ersten Überwachungs-und Sozialkontrollunternehmen arbeiten an einer Gefühlserkennungs-Software. Glück und Wut sind als Unterkategorien in der Big-Data-Bank angelegt. Die Veröffentlichung des lange verschollenen Kruder & Dorfmeister-Albums "1995" kommt also gerade rechtzeitig. Diese 15 Tracks, die laut PR-Legende ein Vierteljahrhundert nach ihrer Fertigstellung auf ein paar verstaubten DAT-Kassetten gefunden wurden, pegeln einen emotional so richtig schön in Richtung Nulllinie: Wurschtigkeitsgefühle, garantiert nicht maschinenlesbar.
"1995" beginnt, wie es immer begonnen hat: ein Kratzen, ein Hauchen, ein Sample, ein Beat. Gepflegtes Plätschern, Weiterplätschern. Die Verweigerung offenkundiger Dynamik gehört zur Dramaturgie eines K&D-Tracks. Es folgt, im besten Fall: die Ahnung, dass da noch mehr ist. Dass unter der polierten Oberfläche ein Herz schlägt, dass, wenn man sich vom Treibsand des Trip-Hop umarmen lässt, etwas Größeres, aufs erste Hinhören Unerhörtes passiert. Und wenn es nicht passiert, dann liegt es vielleicht daran, dass die Laptop-Lautsprecher nicht so gut klingen wie die alte Flex-Anlage. So gesehen kommt "1995" doch wieder mindestens zehn, eher 20 Jahre zu spät.
Kruder & Dorfmeister zählen zu den großen Duos der Musikgeschichte: zwei Männer aus Wien, gelernter Friseur der eine, Musikstudent der andere, finden einander in den frühen 1990er-Jahren und bauen eine gemeinsame Leidenschaft für Musik, Echoeffekte und langsames Gras zu einem eigenen Sound, schließlich zu einem weltweit florierenden Geschäft aus. Mit ihrem Debüt, der 4-Track-EP "G-Stoned", machen sie Wien ab 1993 zum Hotspot für Niedriggeschwindigkeits-Nerds. Aus Deep Soul, Funk, Dub und Rare Groove werden Trip Hop und Downtempo, aus endlosen Sessions in einem Wohnzimmerstudio in der Grundsteingasse Auftragsarbeiten für Depeche Mode und Madonna, Welttourneen auf größten Bühnen, Auftritte in Burgtheater und Konzerthaus, ein Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien. Aus dem lange angekündigten Album wird am Ende leider nichts. Der ewige Ruhm von Kruder & Dorfmeister beruht immer noch auf "G-Stoned" sowie ihrem 1996er-Beitrag zur "DJ Kicks"-Reihe und den "K&D-Sessions" des Jahres 1998, wobei Letztere, als voluminöse Doppel-CD verpackt, auch nur mehr in der ersten Halbzeit wirklich überzeugen. CD zwei bahnte schon den Weg für Kommendes, also das, was profil in einer zeitgenössischen Rezension "Groove gewordene Aquarelle" nannte. "Jähe Brüche oder verborgene Tiefen sind nicht zu erwarten", hieß es da: "Die Stücke werden gleich in den ersten Takten exponiert und entwickeln sich in der Folge nur unwesentlich weiter, drehen sich vielmehr in verspielten Loops um die eigene Achse. Die Wirkung ist gleichermaßen stimulierend wie sedativ. Der perfekte Soundtrack zum Jetlag."
Es folgt nun, wie die Faust aufs Auge: "1995" - ein Jetlag ganz besonderer Art. Das Album konfrontiert sein Publikum unweigerlich mit der eigenen Vergangenheit und deren erbarmungsloser Vergänglichkeit. Ist eigentlich noch Tag oder schon Nacht? Welches Jahr haben wir gerade? Und was war das für eine Zeit, in der Tracks wie diese geradezu euphorische Begeisterung auslösen konnten? Auf welche Reize reagierte man damals, wo es doch-aus heutiger Sicht-so wenige Reize zu geben scheint? Lagen wir damals daneben oder täuschen wir uns heute? Im Rückspiegel betrachtet hat die Vergangenheit immer die Nase vorn.
Damals, also in den mittleren 1990er-Jahren, als die DJs zu Popstars wurden, setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Auswahl, die Mischung und die Anreicherung bestehender Musikstücke eine genuine Kunstform sein kann. Kruder & Dorfmeister, die ewigen Großmeister dieser Kunst, standen am Endpunkt einer Entwicklung, die mit den New Yorker Disco-Nächten der 1970er-Jahre begonnen hatte, Anfang der 1980er-Jahre in der Bronx entscheidenden Schub aufnahm und in den Technoclubs von Berlin eine frühe Hochkultur erreichte. DJs standen im späten 20. Jahrhundert an der Spitze der Avantgarde. Nach Kruder & Dorfmeister landeten sie scharenweise in der Boutiquen-Playlist.
Eine ganze, große Jugendbewegung hatte irgendwie ihren Bewegungsdrang verloren und es sich im Caffè-Latte-Laden gemütlich gemacht. Kopfnicken als Tanzstil, Jasagen aus Prinzip? Nicht unbedingt: Es wurde damals auch sehr viel verweigert, zum Beispiel Tempo, Stress oder Mitmachen um jeden Preis. Kruder & Dorfmeister zeigten in jenen Jahren sehr eindrucksvoll, dass man auch ohne großes Label die ganze Welt erreichen kann. Aus dieser Erkenntnis speiste sich beachtliches Selbstbewusstsein und minimaler Produktionsdruck. Kruder & Dorfmeister nahmen, gründlich analog, die digitale Revolution vorweg, verzichteten dabei aber auf jedes Multitasking. Noch ein Satz aus der erwähnten profil-Geschichte, sie stammt aus dem April 1996: "Ihr erstes Album zumindest (Arbeitstitel: "Pink Floyd") wollen sie noch frei von jedem organisierten Druck fertigstellen, möglichst bis Ende Sommer." Der endlose Sommer hat ein Ende. Der Herbst kann kommen.
SEBASTIAN HOFER erlebte Kruder & Dorfmeister zum ersten Mal im Juli 1997 bei einem Festival auf der Wiener Donauinsel (im Vorprogramm von Rage Against the Machine, den Fantastischen Vier und The Prodigy) - und war ernsthaft begeistert.