Sprengstoff für ein neues Kino: Miguel Gomes’ „Arabian Nights“ in Cannes
Zum heimlichen Hit des Festivals avancierte daher in diesem Jahr an der Croisette ein Werk, das den traditionellen spielfilmischen Rahmen in jedem Sinne sprengt – ein sechseinhalbstündiges Epos aus Portugal, das (genau wie Peter Tscherkasskys avantgardistisches Eros-Spektakel „The Exquisite Corpus“) fernab der offiziellen Auswahl in der Konkurrenzschiene „Quinzaine des Réalisateurs“ lief und als Dreiteiler über fünf Programmtage verteilt wurde. Gomes, 43, gehört allerspätestens seit „Tabu“ (2012) zu den originellsten Geistern des europäischen Autorenfilms. Nach Cannes brachte der undurchschaubare Gomes seine Variation über die mythischen Erzählungen aus tausendundeiner Nacht: Allerdings erschöpfen sich seine „Arabian Nights“ keineswegs in prächtigem Kostümtheater und der Rückschau in vergangene Epochen, sie berichten vielmehr von Europas desillusionierender Gegenwart.
Lust an der Aufsprengung traditioneller Kinoerzählweisen
Ausgehend von Dingen, die sich in Portugal zwischen August 2013 und Juli 2014 ereignet haben, berichtet Gomes in verschachtelten, zwischen dokumentarischen und fiktionalen changierenden Episoden von den desaströsen Folgen der portugiesischen Austeritätspolitik, von der Verarmung des Volkes infolge von Regierungswillkür und Wirtschaftskrisen.
Nun fasst die schöne Scheherazade ihre gefährliche Mission des Dauererzählens – ihr mörderischer König vergisst das Töten nur angesichts spannender Geschichten – zwar auch bei Gomes noch mit entwaffnendem Lächeln ins Auge, aber der Kern ihrer Anekdoten ist ernüchternd. Die wilde Originalität der Dialoge, der Situationen, der Inszenierung macht die (oft ins Metaphorische, Volkstümliche gebogenen) Stories von politischer Idiotie, Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit und Delogierung jedoch nur noch schärfer. Diese hochaktuellen „Arabian Nights“ machen sich zudem die unbändige Lust an der Aufsprengung traditioneller Kinoerzählweisen zunutze: Wo die Gesetze nichts mehr gelten, nach denen Filme erzählt werden müssen, herrscht die langerwartete Gesetzlosigkeit eines neuen sozialen Surrealismus.