Starker Start der 79. Filmfestspiele in Venedig: Schmerz der Frauen
Zwei Schmerzensfrauen beherrschten die ersten Spieltage der 79. Mostra internazionale d’arte cinematografica am Lido, des ältesten Filmfestivals der Welt. Die eine dieser Frauen, sie heißt Vera, hat sich, um ihrer Einsamkeit nicht zu viel Spielraum zu geben, eine raue Schale zugelegt; sie ist Schauspielerin und Anfang 50, aber Jobs sind rar. Mit ihrem Gesicht, das von einigen eher kontraproduktiven schönheitschirurgischen Eingriffen zeugt, kriegt Vera kaum Aufträge. Es nützt ihr auch nicht viel, mit der Tatsache Eindruck zu schinden, dass sie die Tochter des großen Italo-Westernhelden Giuliano Gemma (1938–2013) ist. Mit dessen mythischem Charisma kann sie nicht mithalten.
Die andere dieser beiden Frauen ist ungleich mächtiger: Als Dirigentin genießt Lydia Tár, gespielt von Cate Blanchett, internationale Reputation. Sie hetzt zwischen Konzerten, Lehraufträgen und Aufnahmesessions hin und her, setzt sich gegen Orchester, Kollegen und Funktionäre durch. Sie ist eloquent, egomanisch und anmaßend, weil sie sich das leisten kann. Ihre Lebensgefährtin (Nina Hoss), als Violinistin ebenfalls im Klassikbetrieb tätig, bleibt im Hintergrund und zieht die Fäden so, wie ihre Partnerin das brauchen kann.
Lydia Tár ist eine fiktive Figur, erdacht von dem US-Autor und Regisseur Todd Field, der sie in seinem komplexen Drama „Tár“ zur toxischen Antiheldin macht. Vera Gemma dagegen existiert tatsächlich, wenn auch das österreichische Regie-Duo, das sie zu seiner Hauptfigur gemacht hat, ihre reale Biografie sanft weiterfantasiert. „Vera“ kreist um eine vielfältig angeschlagene Heldin, die zum Opfer junger, sie ausbeutender Männer wird, sich dabei aber als Überlebenskünstlerin erweist und eben nicht als bloß Leidtragende; in „Tár“ geht die Protagonistin den umgekehrten Weg: von der Täterin wird sie, via Online-Shitstorm, zum verfemten Ex-Star. Mit ebensolchen Stehauf-Qualitäten.
Tizza Covi und Rainer Frimmel („La pivellina“; „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“), deren „Vera“ in der fein kuratierten Nebenschiene „Orizzonti“ lief, setzen damit ihren inzwischen etablierten Stil fort: In bestechend fotografierten Kompositionen (Covi/Frimmel drehen grundsätzlich nur mit analogem Filmmaterial) bauen sie ein zunächst dokumentarisch wirkendes Filmporträt erstaunlich unangestrengt zu einer fiktionalen Erzählung aus, in der sich das „Reale“ unauflöslich mit dem „Artifiziellen“ liiert. Und es gelingt ihnen, von einer Frau zu erzählen, auf die man am Ende mit völlig anderen Augen schaut.
Todd Fields Inszenierung ist weit weniger direkt, eher abweisend in seiner (nichtsdestoweniger faszinierenden) Form. Er hat, um für seinen Film eine stimmige Dramaturgie zu finden, in Wien angerufen und die Editorin Monika Willi engagiert, die fast alle Arbeiten Michael Hanekes geschnitten hat. Und tatsächlich kann „Tár“, trotz bombastischer Orchestersequenzen und auftrumpfender Kunstfotografie, den Einfluss Hanekes nicht leugnen: Die elliptischen Erzählweisen und die weit offenen Interpretationsräume sprechen eine eindeutige Sprache.
Weniger ernst geht es in jener Netflix-Produktion zu, mit der das Festival am Mittwoch vergangener Woche eröffnet wurde: Noah Baumbachs Adaption des postmodernen Romans „White Noise“, 1985 publiziert von dem US-Schriftsteller Don DeLillo, katapultiert sein Publikum in die grellbunt reimaginierte Ära der 1980er-Jahre, um mit einem sichtlich lustvollen Ensemble (Adam Driver, Greta Gerwig, Don Cheadle) die vielen fast prophetisch anmutenden Aktualitäten freizulegen, die sich in der Buchvorlage finden: Medienwahnsinn, Verschwörungstheorien, Apokalypsenpanik und die Abgründe des akademischen Lebens. „White Noise“ ist zu gleichen Teilen heiter, anstrengend und visionär.