Anne-Sophie Mutter und Andris Nelsons im Gespräch: „Ja, der ist zum Sterben schön!“
Starviolinistin Anne-Sophie Mutter und Chefdirigent Andris Nelsons im Gespräch über "Star Wars"-Komponist John Williams, Selbstzweifel, Tango und ein Baby, das laufen lernt.
John Williams' zweites Violinkonzert, das Sie demnächst auch in Salzburg spielen werden, entstand für Sie. Was bedeutet es Ihnen?
Mutter
Die Uraufführung fand vor zwei Jahren hier in Tanglewood statt, mit John Williams am Pult. Im März 2022 folgte die europäische Erstaufführung in Wien mit den Philharmonikern unter der Leitung des Meisters. Auch in Amerika habe ich dieses Konzert immer wieder aufgeführt. Je intensiver und länger ich es auf der Bühne spiele, desto näher komme ich dem Herz dieser Musik. Und das Besondere des zweiten Konzerts ist ja, dass es auf einer Art Jazzimprovisation fußt, erst zwischen Harfe und Geige, dann gibt es diese improvisatorischen Inseln, die fantastischen Kadenzen. Je öfter ich es spiele, desto mehr Freiheiten lässt es mir. Es hat mich sehr berührt, denn Jazz ist die andere große Leidenschaft in meinem Leben.
Wie kam das?
Mutter
Ich bin mit klassischer Musik, aber eben auch mit Jazz aufgewachsen. Und dann hatte ich das Glück, einige Jahre lang mit einem der größten Jazzmusiker verheiratet gewesen zu sein-mit André Previn. Der Jazz zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Und es war sogar André, der John Williams und mich in Kontakt gebracht hat-er meinte, John könnte doch eines seiner berühmten Filmmusikthemen für mich neu arrangieren. John war nicht sehr überzeugt, traute mir das nicht zu. André soll aber gesagt haben: Ach was, die kann alles! Da mache ich mal ein Fragezeichen dahinter. Aber die Zusammenarbeit fand statt. Und John war während der einwöchigen Probe, die ich mit ihm hatte, positiv überrascht. So begann es. Mein Umgang mit diesem Idiom war offenbar die Keimzelle für dieses Violinkonzert.
Sie sind also unbedingt an der Weiterverbreitung dieser Komposition interessiert?
Mutter
Aber ja! Ich liebe seine Stimmungen, und es ist schon von der Architektur her ein Meisterwerk. Ich nehme es nächstes Jahr auch nach Australien, Neuseeland und 2024 nach Israel mit. Ich könnte nicht glücklicher sein, es auf der ersten Post-Covid-Europatour des Boston Symphony Orchestra mit Andris Nelsons an so vielen Orten spielen zu dürfen.
John Williams war nun bei allen Proben dabei, diskutierte pingelig viele Details. Wie fühlt man sich da als Dirigent?
Nelsons
Ganz wunderbar, wenn ich den Urheber selbst etwas fragen kann! Ich war aber auch schon vor zwei Jahren bei den Proben und der Uraufführung dabei.
Mutter
Also seit der Geburt dieses Konzerts!
Nelsons
Ja, und da steht nun John Williams und bringt seine Ansichten mit ein. Für mich ist das, als könnte ich Beethoven aushorchen. Ich habe so viel Respekt und Bewunderung für Komponisten-immer mehr, je länger ich dirigiere. Und je öfter ich zeitgenössische Musik spiele, desto wichtiger ist mir dieser Austausch. Der letztlich auch irgendwie wieder auf meine Aufführungen etwa der neunten Beethoven-Sinfonie zurückwirkt.
Mutter
John kümmert sich tatsächlich besonders. Das Baby ist seit zwei Jahren auf der Welt, aber er korrigiert immer noch, schreibt gerade vier weitere Takte in den Schlusssatz. Vielleicht genießt er es auch, diese Arbeit immer noch weiterentwickeln zu können. Bei seinen Soundtracks geht das natürlich nicht. Ich fand das Konzert von Anfang an perfekt. Aber ihm fällt stets noch Besseres ein. Er ist ungeheuer intelligent und leidenschaftlich-mit 91 Jahren.
Nelsons
Eine bestimmte Stelle klinge anders sinnvoller, sagt er dann. Und recht hat er. Ich höre auch viel von Anne-Sophie in diesem Werk.
Mutter
Ich bin immer wieder fasziniert von der Genese eines Stücks, wie es Gestalt annimmt. Sonst habe ich es ja meist mit sakrosankten Partituren zu tun. Und wegen Corona hatte ich diesmal besonders viel Zeit, mich mit diesem Werk zu beschäftigen. Es ist lang und kompliziert, und es bekam den Entfaltungsraum, den es brauchte, um mit ihm vertraut zu werden. In der künstlerischen Isolation wurde Johns Stück noch bedeutsamer.
Hat sich Ihre Beziehung zu dem Stück in den zwei Jahren seit seiner Genese sehr verändert?
Mutter
Ich verstehe es immer besser, auch weil ich mich mit John darüber austausche. Es wächst in mir, die komplexe Orchestrierung, die Dialoge auf vielen Ebenen. Aber ich bin natürlich befangen, denn ich liebe alles, was John Williams für mich geschrieben hat. Er ist ein geborener Komponist für die Geige. Ich weiß nicht, wieso, aber bei ihm klingt sie einfach so verdammt wunderschön! Und er ist der einzige Komponist, den ich kenne, der wirklich alle erreichen kann. Schon deshalb hat dieses Violinkonzert eine so besondere Bedeutung. Es ist eine Mitteilung an alle da draußen, dass man hochgebildete, intellektuelle Musik schreiben kann, die doch zu allen spricht. Wir trauen ihm, uns zu verbinden.
Und das alles verdanken Sie den Weihnachtskeksen, die Sie John Williams regelmäßig geschickt haben, um ihn zum Schreiben zu ermutigen?
Mutter
Mir wird da immer Absicht unterstellt. Darf man auch höflich sein? Aber ernsthaft: Als der Komponist Tōru Takemitsu 1996 gestorben war, dachte ich: Schluss mit der Schüchternheit! Wenn du von einem Komponisten Musik willst, dann frag ihn! Takemitsu habe ich verpasst, das bereue ich sehr. Passiert mir nie wieder! Seither sage ich: Ran an die Leute! Mehr als Nein sagen kann ein Komponist ja nun auch nicht.
Herr Nelsons, wann hatten Sie Ihre ersten professionellen Kontakte mit zeitgenössischer Musik?
Nelsons
Das war eigentlich noch während meiner Zeit im Opernorchester von Riga. Ich war dort Trompeter und spielte gleichzeitig viel zeitgenössische Kammermusik und Solowerke. Der erste lebende Komponist, der mich nachdrücklich beeindruckt hat, war der Lette Arturs Maskats. Dessen Tango spiele ich immer noch gerne.
Mutter
Ja, der ist zum Sterben schön. Maskats muss ich stalken! Vielleicht kann er noch einen Tango für Geige und Klavier schreiben.
Macht für einen Dirigenten zeitgenössische Musik nicht eigentlich auch technisch mehr Spaß?
Nelsons
Wenn sie gut geschrieben ist, macht sie durchaus Spaß! Sie kann schlagtechnisch sehr komplex sein, alles andere ist Interpretation und natürlich Erfahrung. Wenn man die hat, kann Heutiges eine rasante Abenteuerfahrt sein. Ich möchte immer wieder herausgefordert werden, durch Neues, zugleich durch die genialen Werke der Vergangenheit, ohne die ich nicht leben könnte. In Boston hatten wir in meiner Zeit in den vergangenen zehn Jahren 54 Auftragskompositionen: Kammermusik, aber auch richtig schwere Stücke, etwa das Klavierkonzert von Thomas Adès. 31 dieser Werke habe ich selbst dirigiert-und eigentlich jede mit Freude. Auch das Orchester ist solche Herausforderungen gewöhnt, giert förmlich danach. So kommt garantiert keine Routine auf. Nicht alles kann und wird bestehen. Aber wir müssen es immer wieder neu angehen. Die Musikgeschichte darf nicht stehen bleiben, auch wir müssen der nächsten Generation etwas hinterlassen, dürfen uns nicht nur im Repertoire breitmachen. Ich sehe das schon als Verpflichtung.
Mutter
Wir brauchen die guten Stücke unserer Epoche, um das Repertoire zu verjüngen und zu erweitern. Für mich ist es ein echtes Privileg, mich in neue, individuelle, zeitgenössische Klangwelten versenken zu dürfen, die Beziehung zwischen Komposition und Interpretation als Dialog auszuloten. Bei toten Komponisten vermute ich nur, da gebe ich mein Bestes, kann aber nie sicher sein, ob genau das gewollt war. Jörg Widmann aber kann ich einfach eine SMS schicken. Und ehrlich gesagt: Auch ich freue mich, wenn Komponisten toll finden, was ich anzubieten habe. Ich habe etwa beim Beethoven-Konzert meine Selbstzweifel, muss mich immer wieder neu erfinden, meine Ansichten revidieren.
Ist es nicht faszinierend, bei einer Uraufführung ohne jede Aufführungshistorie agieren zu können?
Mutter
Ich versuche allerdings auch bei Dvořák oder Mozart stets unschuldig heranzugehen. Bei Letzterem habe ich leider dauernd den Sound der 1980er-Jahre im Ohr, der hat mich natürlich geprägt. Seither bemühe ich mich, ihn wieder loszuwerden. Ich versuche bei jedem Stück, das ich mir vornehme, einfach mit den Noten zu kommunizieren, ohne nach rechts und links zu schauen. Sonst gerät man gleich in einen labyrinthischen Strudel, es unbedingt anders machen zu müssen. Und das ist fatal. Man muss immer erst die eigene Balance zu einem Stück abchecken. Und am Ende kann ich mich an den lebenden Schöpfer als einen musikalischen Kompagnon wenden.
Nelsons
Ich versuche, dabei auch sehr naiv zu bleiben, immer wieder beim Nullpunkt zu starten. Und je einfacher ich einen Zeitgenossen befrage, desto schlüssigere Antworten bekomme ich meistens.
Mutter
Manchmal haben mir deren Antworten freilich auch gar nicht geholfen.
Ist es leichter, bei berühmten Komponisten Werke zu bestellen, wenn man zwei Orchestern vorsteht und sich die Uraufführung teilt?
Nelsons
Sicher, für jeden Komponisten ist es attraktiv, in Boston und Leipzig prominent herausgestellt zu werden. Wir machen das auch regelmäßig, ich genieße es, in den Auswahlkomitees zu sitzen. Und ich, der ich dasselbe Stück hier und dort dirigiere, lerne das je Spezifische der beiden Klangkörper so immer noch besser kennen. Es kommt auch vor, dass manche Komponisten immer wieder kreative Kriege gegen sich selbst führen und die Abgabe verzögern. Wir warten etwa sehnsüchtig noch auf eine große Auftragsarbeit der russischen Komponistin Sofia Gubaidulina, die ja schon bald 92 Jahre alt sein wird!
Mutter
Bei mir hat anfangs immer der Mäzen und Dirigent Paul Sacher die Aufträge in meinem Namen verteilt-und bezahlt. Als er dann nicht mehr da war, habe ich das Heft in Hand genommen, ganz allein, dann nämlich wusste ich, was ich wollte. Ich war stets die Impulsgeberin. Und ich habe mich bemüht, viele Mitbesteller zu finden. Gar nicht so sehr wegen der Kosten, sondern damit ein hoffentlich gutes Werk auch innerhalb eines internationalen Szenarios garantiert gehört werde.
Haben Sie schon einmal eine Arbeit, die Sie initiierten, am Ende abgelehnt?
Mutter
Einmal ist es passiert, dass Lambert Orkis, mein Klavierpartner, und ich ein Kammermusikstück einfach nicht spielen konnten. Der Schöpfer wollte nichts ändern, es gab keinen Dialog. Das Werk wurde dann nie aufgeführt, und mit dem Komponisten gab es zehn Jahre Sendepause. Dann haben wir uns aber wieder angenähert.
Nelsons
Wir müssen eben auch jüngeren Komponisten Chancen geben, sie dürfen sich irren, können später wiederkommen. Wir Interpreten müssen uns durch sie aus unserer Routine locken lassen, andererseits sind wir aber auch professionelle Anlaufstelle. Manche Komponisten sind sehr scheu, wissen nicht, wie sie sich ausdrücken sollen. Ein gutes Orchester kann dann auch ein Korrektiv sein, wo sie erleben können, wo ihre klangliche Reise hinführt, was sie noch lernen müssen, vielleicht doch anders machen sollten. Es ist unsere Mission, sie zu unterstützen.
Mutter
Und es ist keine Mission Impossible! Jeder Mensch, der Musik schafft, hat Zeiten erlebt, in denen seine Inspiration etwas "beige" erscheint-aber dann kommt ein John Williams daher und ist so jung und so freudvoll in den Werken, die er schafft. Jede zeitgenössische Partitur verlangt mir Neues ab, manchmal Dinge, die ich so noch nie gewagt habe, und ich lerne mich so als Musikerin immer neu kennen. Ich liebe es, mich in Projekte zu werfen, die ich mir eigentlich nicht zutraue. Gerade auf dem Podium. Etwas nicht zu können, ist keine Schande. Es gar nicht erst nicht zu versuchen, schon. Das wäre ein Verlust. Ich suche mir also Aufgaben, die eigentlich unmöglich sind. Der Sprung zu John Williams ist auch eine Herausforderung, die nicht unbedingt auf meinem Lebensweg lag. Aber ich bin wahnsinnig dankbar, dass so Unterschiedliches aus dieser Begegnung erwachsen ist.
Akzeptiert der Betrieb denn so viel entstehende zeitgenössische Musik?
Mutter
Früher musste ich bisweilen stärker darum kämpfen. Und als meine Kinder noch kleiner waren, konnte ich manchem störrischen Veranstalter sagen: Fein, dann bleibe ich eben zu Hause bei meiner Familie. Das ist allerdings auch heute noch mein Mantra, wenn jemand meine vorgeschlagenen Programme so gar nicht akzeptieren mag. Dann gehe ich eben wandern. Aber im Ernst: Die Vielfalt der Programmierung hat sich enorm verbessert.
Nelsons
Gerade bei Tourneen sind viele begeistert, wenn man auch Aktuelles, Besonderes anzubieten hat, nicht nur die populären Schlachtrösser. Der amerikanische Orchesterbetrieb giert nach neuer Musik, nach Musik von Frauen, nach zeitgenössischen Themen. Das BSO hat die Zeitgenossenschaft aber ohnehin in der DNA.
Aufgewachsen im Südwesten Deutschlands, absolvierte Anne-Sophie Mutter, die als Geigenwunderkind früh Furore gemacht hatte, bereits in den 1970er-Jahren internationale Tourneen. Als 14-Jährige spielte sie in Salzburg Mozart, dirigiert von Herbert von Karajan, der ihren Weg zur Weltgeltung in den Jahren danach entscheidend beschleunigte. Sie besitzt zwei der noch rund 620 existierenden Violinen des italienischen Geigenbaumeisters Antonio Stradivari aus dem frühen 18. Jahrhundert.
Geboren in Riga als Sohn einer Spezialistin für Alte Musik sowie eines Cellisten und Chordirigenten, machte Andris Nelsons-der bereits als Fünfjähriger von Wagners "Tannhäuser" gerührt und überwältigt worden war-in seinen frühen Zwanzigern steile Karriere; 2003 war er Chefdirigent der Lettischen Nationaloper, 2010 debütierte er bei den Bayreuther Festspielen, beim Wiener Neujahrskonzert stand er 2020 am Pult. Inzwischen fungiert Nelsons als Chef der Boston Symphony und als Kapellmeister des Gewandhausorchesters in Leipzig.
Er gehört zu den berühmtesten Filmkomponisten der Welt, aktiv seit 1954: John Towner Williams ist langjähriger musikalischer Komplize Steven Spielbergs und George Lucas', hat die Soundtracks zu den Serien "Star Wars" und "Indiana Jones" geschrieben. Seit den 1950er-Jahren komponiert er auch, abseits des Kinos, Konzerte, Orchesterwerke und Kammermusik. Er besitzt 25 Grammys, fünf Academy Awards, vier Golden Globes. Nur Walt Disney hat mehr Oscar-Nominierungen erhalten als er, der sich 53 Mal in der Endauswahl fand.